Nicht ohne dich
ABER UNSER MUT IST UNGEBROCHEN. Ein Bursche sammelte Holzstücke zum Anfeuern aus den Trümmern und steckte sie in einen Sack. Dabei pfiff er vor sich hin und hielt aus dem Augenwinkel nach der Polizei Ausschau. Alle taten das, obwohl es als Plünderei galt und verboten war.
Der ekelerregende Gestank von Leichen, die unter den Trümmern verwesten, stieg mir in die Nase. Um mich nicht übergeben zu müssen, band ich mir mein Taschentuch vor die Nase. Vorsorglich hatte ich Fantasia de Fleurs draufgeträufelt. Die Frage, was wohl mit uns passieren würde, ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Mama meinte: »Dein Vater hat sie für einen guten Menschen gehalten.«
»Hoffentlich hat ihn sein Gefühl nicht getrogen«, entgegnete ich.
»Du musst deinem eigenen Urteil vertrauen, Jenny«, sagte Raffi. »Wahrscheinlich hast du richtig gehandelt.« Aber er klang matt und elend, genauso elend, wie mir zumute war. Wir würden auseinandergerissen werden. Ich hatte das Gefühl, durch eine graue Landschaft zu wandeln, alles war grau, der Himmel, die Häuser, die Menschen, die Erde.
»Und falls die Gestapo doch kommt«, fuhr Raffi fort, »flüchte ich über die Hintertreppe in den Hof. Vielleicht stellen sie an der Hintertür keine Wache auf. Es ist jedenfalls eine Chance. Ich kauere mich im Fahrradschuppen auf den Boden, da ist Platz ganz hinten in der Ecke – du weißt es doch noch, Jenny.«
»Da ist so eine Nische, die fast wie ein Geheimgang hinter Jankes Werkzeugschuppen herauskommt«, erklärte ich Mama. »Es war immer unser geheimes Versteck. Nicht einmal Karl haben wir davon erzählt.«
Sie sah mich halb lächelnd, halb weinend an. »War das die Stelle, wo du dich immer so schmutzig gemacht hast?«, fragte sie.
»Ja«, entgegnete ich.
Sie lachte zitternd. »Ich habe euch beide so lieb.«
Als Raffi und ich uns in jener Nacht liebten, hielten wir einander so fest, als könnten wir miteinander verschmelzen, und niemand könnte uns mehr trennen, was auch immer geschah. Wenn es doch nur so wäre, dachte ich.
Einen Teil des Tages verbrachte ich weiterhin in der Werkstatt bei Mama, aber ich arbeitete nicht mehr an Spielsachen. Jetzt strickte ich an meinem Weihnachtsgeschenk für Raffi. Ich hatte genug dunkelblaue Wolle für einen Pullover ergattert, allerdings in drei verschiedenen Schattierungen, weshalb es ein Streifenpulli werden würde. Ich gab mir so viel Mühe damit, als könnte ich ihn mit diesem Pullover irgendwie vor Unheil schützen. Falls irgendjemand hätte wissen wollen, für wen er war, hätte ich gesagt, es sei eine Bestellung. Aber obwohl Nachbarn und Freunde von Mama vorbeikamen, um uns eine Weihnachtskarte zu bringen oder nachzusehen, ob wir noch lebten, fragte mich keiner.
»Schließlich könnte er ja auch für dich selbst sein«, meinte Mama. Dann seufzte sie. »Ich habe schon ganz vergessen, wie es war, als wir noch nicht ständig so auf der Hut sein mussten.«
Die Gestapo ließ sich nicht blicken. Agnes Hummel war wohl doch keine Spionin.
Kapitel Zweiundzwanzig
D as Weckerrasseln schrillte mir in den Ohren. Ich wachte auf und spürte Raffis Hände, die mich umfasst hielten. Sein Griff war hart und angespannt. Er sagte: »Heute ist der dreiundzwanzigste, Jenny.«
Mir wurde es ganz eng in der Kehle.
»Und wenn ich nun gleich heute Nacht fortgehen soll?«, fragte er.
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich drehte mich zu ihm und wir ertasteten einander im Dunkeln. Ich strich mit den Händen über seine Seite und seinen Rücken, fühlte die Wölbung seiner Rippen, seine Schulterblätter, die Muskeln seiner Arme. Ich berührte sein Gesicht, liebkoste seine Wangenknochen, seine höckerige Nase, spürte die winzigen Bewegungen der Augäpfel unter den geschlossenen Lidern, während seine warmen Hände über meinen Kopf, mein Gesicht, meinen Rücken, meine Brüste glitten. Dann küssten wir uns, und das war gut, denn plötzlich vergaß ich alles, außer dass ich hier mit ihm war.
Mama schimpfte nicht mit uns, weil wir so lange im Bett blieben.
Ich frühstückte, machte den Pullover für Raffi fertig und ging zum Einkaufen. Der Gemüsehändler hatte wieder geöffnet und Karotten und Steckrüben im Angebot – und für mich noch einen Rotkohl, Äpfel und Zwiebeln.
»Wunderbar!«, sagte ich und zückte die Zigarettenmarken. »Das wird uns für Weihnachten reichen.«
»Was für eine Enthaltsamkeit«, meinte er. »Nicht zu rauchen! Wie schafft ihr es nur, eure Nerven zu beruhigen? Nein, ihr steht
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