Nicht ohne dich
was sie darauf erwiderte. »Komm rein.«
Sie führte mich durch einen holzgetäfelten Flur in ihr Wohnzimmer. »Nimm doch Platz«, lud sie mich ein. Ich setzte mich auf einen ledernen Armsessel und betrachtete ihr Gesicht, besonders ihre freundlichen grauen Augen, unter denen nun dunkle Schatten lagen. Dabei fragte ich mich, ob ich ihr trauen konnte und was ich ihr sagen sollte, falls ich mich dagegen entschied.
In ihrem Lächeln lag eine gewisse Zurückhaltung, und ich merkte zu meiner Bestürzung, dass sie ihrerseits mich einzuschätzen versuchte. »Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sie sich.
»Gut, aber wir vermissen ihn«, entgegnete ich.
»Und dem Rest deiner Familie?«
»Mama ist wohlauf, aber mein Bruder ist in Afrika gefallen.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Es kostete mich Überwindung, das zu erzählen.
»Das tut mir leid«, sagte sie. Sie zögerte, und da wusste ich, dass sie beschlossen hatte, ein Wagnis einzugehen, um mich zu testen. Sehr leise sagte sie: »Was für eine schreckliche Verschwendung von Leben.«
»Ja«, entgegnete ich genauso leise. Unsere Blicke kreuzten sich. Ich sah ihre Augenbrauen leicht zucken. Da nahm ich all meinen Mut zusammen. »Die Nazis haben ihn auf dem Gewissen. Ich hasse sie.«
Sie nickte. Dann ging sie in den Flur hinaus. Ich wusste, dass sie etwas übers Telefon legte. Mir fielen die dichten Spitzenvorhänge vor den Fenstern auf, durch die man von außen vermutlich kaum hineinsehen konnte. Sie kam zurück ins Zimmer.
»Warum bist du hier, Jenny?«
»Wir brauchen Hilfe.«
»Was kann ich für euch tun?«
»Ich weiß nicht, ob Sie etwas tun können. Wir verstecken einen jüdischen Jungen aus der Familie, die nebenan gewohnt hat. Bloß die Frau gegenüber ist ein richtiger Nazi und sie hat Verdacht geschöpft. Sie ist bis nach Weihnachten verreist, aber dann …«
»Ihr seid in großer Gefahr«, sagte sie zustimmend. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir müssen uns noch einmal treffen, aber besser nicht bei mir oder dir zu Hause. Hör zu, am Savignyplatz gibt es ein kleines Café, das Café Wagner. Kennst du es?«
Ich nickte.
»Warte dort am dreiundzwanzigsten auf mich, um vier Uhr. Falls das Haus nicht mehr steht, treffen wir uns davor auf der Straße. Jetzt mache ich uns Tee. Bleib du hier und ruh dich aus.«
Bevor ich nach dem Kaffee bei Herrn von Himmelrein auch noch Tee trank, wollte ich lieber die Toilette benutzen. Sie führte mich nach oben und zeigte mir das Badezimmer, als wolle sie sichergehen, dass ich nicht die falsche Tür öffnete. Da war ich endgültig überzeugt, dass sie ebenfalls jemanden versteckte, war aber klug genug, nicht nachzufragen.
Zurück im Wohnzimmer, wo ich jetzt allein war, sah ich mich um und entdeckte auf einem Beistelltischchen ein Foto, das die beiden Dackel mit einem Mädchen zeigte. Es waren liebenswerte Tiere mit struppigen, freundlichen Gesichtern. Agnes Hummel kam zurück mit einer silbernen Teekanne sowie zwei Teegedecken mit Rosenmuster – so ein Service hatte Tante Edith auch gehabt.
»Ihre Hunde sehen nett aus«, bemerkte ich.
»Ich vermisse sie«, gestand sie. »Sie waren schon alt und sind beide gestorben. Vielleicht haben ihnen auch die Luftangriffe zugesetzt, obwohl es hier draußen natürlich nicht so schlimm ist wie im Zentrum.« Sie reichte mir eine Tasse. Es gab Pfefferminztee.
»Ist das auf dem Foto Ihre Tochter?«
»Ja, das ist Johanna«, bestätigte sie. »Sie wohnt in Heidelberg. Dort gibt es keine Luftangriffe, darüber bin ich sehr froh. Ihr Kind kann mittlerweile schon laufen; ein Jammer, dass mein Mann das nicht mehr erleben durfte. Er wäre ganz vernarrt in seine Enkelin gewesen.«
Auf dem Weg zum Bahnhof war ich noch überzeugt davon, das Richtige getan zu haben, doch als ich in der rumpelnden U-Bahn nach Hause fuhr, beschlichen mich die ersten Zweifel. Agnes Hummel könnte ein Gestapospitzel sein, vielleicht war sie es von Anfang an gewesen. Möglicherweise hatte man sie bei den Quäkern eingeschleust, um naive Idealisten wie die Friedemanns zu schnappen. Die Person in ihrem Haus war womöglich kein Jude, sondern ein Gestapobeamter gewesen, der unsere Gespräche mitgehört hatte. Je länger die Fahrt dauerte, desto sicherer war ich mir, dass ich uns alle ans Messer geliefert hatte.
Am Kurfürstendamm stieg ich aus und ging durch die ausgebrannten, vom gröbsten Schutt befreiten Straßen. Jemand hatte ein Naziplakat aufgehängt, auf dem stand: UNSERE MAUERN SIND ZERSTÖRT,
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