Nicht ohne dich
entschied Tante Edith. »Nein, ich lasse mich nicht abhalten, Karl. Wenn ich hierbleiben und auf euch warten muss, drehe ich durch.«
Kapitel Vier
T ante Edith wollte, dass wir uns alle fein anzogen. »Vielleicht hilft es etwas«, meinte sie. Katrin gab ihr Mamas Mantel mit dem Pelzkragen. Raffi zog seinen besten blauen Anzug an, den hatten die SA-Männer heil gelassen. Ich musste mein Sonntagskleid tragen. Ich fand es schrecklich, dass wir uns noch auftakelten, es kam mir vor, als würden wir wertvolle Zeit verschwenden.
Wir nahmen die Schmalspurbahn hinaus nach Wannsee, wo mein reicher Onkel Hartmut und Papas Schwester Tante Grete direkt am Seeufer wohnten. Eine Allee führte zu ihrer Gartenpforte und von dort gingen wir über die zu beiden Seiten von kleinen blauen Weihnachtsbäumchen gesäumte Auffahrt zu ihrer großen protzigen Villa mit dem Fachwerkgiebel. Karl betätigte die polierte Messingkuhglocke. Ich hörte Schnucki, ihre Hündin, bellen. Sie klang wie Muffi, was nicht verwunderte, da sie doch Muffis Mutter war.
Das Hausmädchen Minna öffnete die Tür. Sie riss erstaunt die Augen auf, knickste jedoch höflich und bat uns herein. Tante Grete kam uns, in eine schwere Moschuswolke gehüllt, entgegen, gefolgt von Schnucki. Als sie zwei Juden in ihrer Eingangshalle sah, bewegten sich ihre gezupften Augenbrauen nach oben.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte sie Karl. Er antwortete, Mama sei bei Omi, weil diese krank sei.
»Verstehe«, entgegnete sie, als wäre Omi absichtlich krank geworden, um sie zu ärgern. Tante Grete und Onkel Hartmut mochten Omi nicht – was auf Gegenseitigkeit beruhte –, weil Omi aus England kam und an die Demokratie glaubte.
»Tante Grete«, fing Karl an, »Papa ist verhaftet worden. Und Onkel Markus auch, und wir haben gehofft …«
Ihr entfuhr ein leiser Schrei. »Verhaftet? O nein.« Sofort wurde sie aktiv. Sie ging zum Telefon und ich hörte, wie sie zu Onkel Hartmuts Sekretärin sagte, er müsse sofort nach Hause kommen. Es sei dringend.
Dann mussten wir im Salon, wie Tante Grete ihn nannte, auf Onkel Hartmut warten. Eine halbe Ewigkeit. Angst und Ungeduld nagten an mir. Ich hörte das Ticken der großen Standuhr aus Walnussholz, die jede halbe Stunde dröhnend schlug. Die wuchtigen Möbel ragten vom Parkettboden auf wie klippengesäumte Inseln in einem gelben Ozean. Schnucki lag auf einem riesigen Orientteppich, ihre schwarzen Zotteln umgaben sie wie die Fransen eines viel kleineren schwarzen Teppichs. Sie beachtete uns nicht weiter. Das tat sie nie.
»Sie ist größer als Muffi«, bemerkte Raffi mit einem Blick auf Schnucki.
Tante Grete hob die Augenbrauen, als hätte er besser den Mund gehalten, antwortete aber trotzdem darauf. »Ja, weil sie ein reinrassiger Ungarischer Puli ist. Muffis Vater hingegen kennen wir nicht. Es ist erstaunlich, dass Muffi ihrer Mutter so ähnlich geworden ist.«
Sie rieb uns immer unter die Nase, dass Schnucki viel mehr wert war als ihre gemischtrassige Tochter, aber heute war mir das ganz egal. Heute ging es nur um Papa und Onkel Markus. Die Uhr tickte und tickte.
Plötzlich rappelte sich Schnucki auf die Füße, lief zur Tür und begann erneut zu bellen. Einen Augenblick später läutete es. Meine Cousinen Hildegard und Kunigunde kamen von der Schule nach Hause wie an einem ganz normalen Tag.
»Was machen die denn hier?«, erkundigte sich Hildegard. Sie stand in der Tür und starrte mich und Karl an, und auch Raffi. »Wer sind diese Leute? Oh nein, Mama, das sind ihre jüdischen Freunde.«
Sie war ein Jahr älter als ich, ihre arisch blonden Zöpfe hingen ihr über den Rücken.
»Sei still«, sagte Tante Grete. »Sie stecken in Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten?«, echote Hildegard mit hoher, verächtlicher Stimme. »Den Juden geschieht es ganz recht, was ihnen passiert ist. Wir mussten uns heute in der Turnhalle versammeln und die Direktorin hat es uns erklärt.«
Tante Edith schloss die Augen und Raffi funkelte Hildegard finster an. Sie stierte mit schmalen Augen zurück. Kunigunde nahm Schnucki auf den Arm und drehte ihr die Ponyfransen nach oben, sodass man ausnahmsweise einmal ihre Augen sah. Das ließ die Hündin sich eine Weile lang gefallen, ehe sie sich losstrampelte und das Weite suchte. Kunigunde war zwei Jahre jünger als ich, ein kleines Monster mit blonden Rattenschwänzchen.
»Sind sie etwa zu euch nach Haus gekommen und haben alle Fenster eingeschlagen?«, fragte sie Tante Edith mit einem boshaften
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