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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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wirkte angespannt wie ein Drahtseil. »Onkel Dietrich könnte den Quäkerglauben aufgeben.«
    Da sah ich sie. Die Tür, durch die wir wieder in den Kreis der anständigen Leute zurückkehren konnten, wenn wir unsere Freunde dahinter zurückließen. Eine Vorstellung, die einen hässlichen Missklang in mir erzeugte. Nun war ich überzeugt, dass Onkel Hartmut Papa eigentlich die ganze Zeit hatte helfen wollen, nur Onkel Markus nicht. Vielleicht wollte er, dass Tante Edith und Raffi wütend auf uns wurden und wir uns mit ihnen zerstritten.
    »Da könnte er sich genauso gut gleich selbst aufgeben«, sagte Karl. Ich fasste ein wenig Zuversicht. Er fuhr fort: »Ich habe auch meine Ansichten. Und eine davon ist, dass ich Onkel Hartmut am liebsten verdreschen würde.«
    Hitzig sagte Raffi: »Ich würde gerne seine Rippen zu Brei schlagen. Aber er ist ein fetter Kerl, er wäre schwer umzunieten.«
    »Er ist übergewichtig«, sagte Karl. »Stopft sich bei Banketten mit Hitler den Bauch voll, hat keine Kondition. Ich sollte Jiu-Jitsu lernen und ihn mit einem Nackenschlag umhauen. Ich habe sowieso vor, mit dem Hanteltraining anzufangen. Meinen Körper zu stählen. Vielleicht komme ich dann gegen ein paar von diesen Schweinehunden an. Du kannst auch mitmachen, Raffi.«
    Plötzlich grinste Raffi, sein vertrautes freches Grinsen. »Krafttraining? Damit ich rausgehen und einem SA-Mann die Fresse einschlagen kann?«
    »Immer sachte«, meinte Karl. »Nimm dir erst mal einen Hitlerjungen vor und arbeite dich dann hoch.«
    Das Gerede half ihnen, sich besser zu fühlen, das war mir klar, aber ich konnte es nicht ertragen, mir anzuhören, wer wen verprügeln wollte. Ich ging in mein Zimmer. Muffi kam mit. Ich schloss die Tür, setzte mich mit ihr auf mein Bett und fing an, ihre Zotteln an den Enden auseinanderzuzupfen, damit sie nicht verfilzten.
    Onkel Hartmut hatte Muffi nach ihrer Geburt ertränken wollen, weil sie nicht reinrassig war. Er war fuchsteufelswild auf Schnucki, denn sie war ausgebüxt und mit weiß Gott welchem Hund durchgebrannt. Vielleicht hatte er Angst, dass Muffis Vater ein jüdischer Hund war.
    Ich dachte daran, wie Papa mir gesagt hatte, es sei gegen das Gesetz, dass ich Raffi küsste, und dass die Jakobis ihr Hausmädchen entlassen mussten, damit Onkel Markus als Jude sich nicht an ihr vergreifen konnte – Mama hatte mich schon aufgeklärt, daher wusste ich, was das Wort bedeutet. Und Onkel Hartmut hatte Hildegard geschlagen, weil sie gesagt hatte, dass ihr Raffi gefallen könnte.
    Hildegard und Kunigunde nannten mich gern einen Mischling, weil ich eine englische Großmutter hatte. Ich war ihnen ein bisschen suspekt, aber nicht so sehr, wie wenn ich jüdischer Abstammung gewesen wäre, denn die Nazis hatten entschieden, dass die Engländer Arier waren.
    Deshalb war ich eigentlich reinrassig wie Schnucki, ich sollte mir also einen arischen Partner suchen und nach dem Willen der Nazis reinrassige Kinder bekommen. Das erzählten sie uns immer wieder in der Schule. Sie sagten, von den körperlichen Merkmalen her seien wir zur arischen Rasse zu zählen.
    Ich betrachtete meine Pinocchio-Puppe, die Papa mir zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Zu ihr gehörte ein Satz abnehmbarer Nasen, die man ihr aufsetzen konnte, damit die Nase bei jeder Lüge länger wurde. Pinocchio war erst eine Holzpuppe ohne Gefühle und wurde dann zu einem richtigen Jungen; die Nazis hingegen wollten genau das Gegenteil: Wie Puppen sollten wir nach ihrer Pfeife tanzen.
    Ich streckte den Arm aus und stellte mir vor, wie er sich in hartes Holz mit Schnüren dran verwandelte. Man würde es gar nicht merken, dachte ich. Alle Gefühle wären erstorben, und man würde nur noch das tun, was einem befohlen wurde. Ich schauderte. »Nein«, sagte ich zu Muffi, »das ist mein Körper. Er gehört mir. Nicht ihnen.«

Kapitel Fünf
    Juli 1939
    D ie hohen, dicht stehenden Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof waren nass vom Regen. Ihre hebräischen Inschriften konnte ich nicht lesen, doch die Steine schienen einander über die Schulter zu schauen und uns zu beobachten. Unwillkürlich fragte ich mich, was sie wohl dachten.
    Ich ging mit Mama hinter Tante Edith her. Vor ihr trugen Papa, Karl und Raffi Onkel Markus’ Sarg, zusammen mit drei Männern, die ich aus seinem Laden kannte. Der jüdischen Sitte nach durften keine Fremden die Toten zu Grabe tragen, das war der Familie und engen Freunden vorbehalten.
    Sie schritten so langsam voran, dass mir fast

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