Nicht ohne dich
ihr eine schallende Ohrfeige. Sie kreischte auf.
Es war alles einfach entsetzlich.
Tante Grete schien es nicht zu stören, dass er Hildegard geschlagen hatte, aber sie sagte: »Hartmut, Dietrich ist mein Bruder.«
»Wozu ist ein solcher Bruder schon gut?«, fragte Onkel Hartmut zurück – und in diesem Moment zerbrach etwas in mir. Ich begann zu schluchzen, Tränen und Rotz liefen mir übers Gesicht. Ich schämte mich schrecklich deswegen, aber ich konnte nichts dagegen tun, und ich schrie Onkel Hartmut fast an, dass die Männer Papa getreten und Onkel Markus mit der Faust bearbeitet hatten und warum er ihnen nicht helfen wollte?
Tante Grete nahm meine Hand und schob ein kleines Seidentaschentuch hinein. Ich wollte es benutzen, aber es schimmerte so schön, deshalb wischte ich mir die Nase am Ärmel ab.
»Bitte, Hartmut …«, flehte Tante Grete. Jetzt war sie es, die in Tränen ausbrach.
»Weiber«, knurrte er und bedachte jedes weibliche Wesen im Raum mit einem bösen Blick, sogar Schnucki mit ihrem Wuschelfell. »Das könnt ihr gut, auf Kommando heulen, was? Das hält der stärkste Kerl nicht aus. Na schön, Grete, ich werde sehen, was ich für deinen Bruder tun kann. Aber dem Juden kann und will ich nicht helfen.«
Wir warteten zitternd auf dem Bahnsteig, bis der Zug kam. Niemand sagte ein Wort.
Wir bekamen gegenüberliegende Plätze. Raffi saß neben Tante Edith und hielt ihre Hand, Karl saß neben mir. Der Zug rumpelte dahin. Draußen schien die Nachmittagssonne durch die letzten rostroten Blätter der Bäume im Grunewald.
»Also, ich finde es ungeheuerlich«, meinte eine dünne ältere Dame auf der anderen Seite des Ganges zu einer jungen Frau mit einem kleinen Kind. »Und sie hatten Listen. Es war alles im Vorfeld organisiert.«
»Jetzt bringen sie die jüdischen Männer in Konzentrationslager«, entgegnete die junge Mutter, die sich an ihrer Handtasche festhielt und erschauderte. »Das sind doch keine Kriminellen.«
Ich dachte daran, was Onkel Hartmut über die Lager erzählt hatte. »Das Schlimmste, was denen dort passiert, ist, dass sie ein bisschen schwere Arbeit verrichten müssen.« Wenn das stimmte, warum hatten dann alle solche Angst, ins Lager zu kommen? Aber ich kannte die Wahrheit sowieso von Papa und Mama. In den Lagern starben Menschen.
Vom Weinen fühlte ich mich innerlich ganz hohl und wund, und schrecklich müde. Raffi streichelte Tante Ediths Hand, und sie starrte auf die neckischen kleinen Schleifen auf ihren besten schwarzen Lacklederschuhen. Tja, die hatten ihr auch nichts genützt. Wir hätten genauso gut in unseren Alltagskleidern zu Onkel Hartmut fahren können.
Ich schloss die Augen und döste vor mich hin. Dabei hoffte ich, irgendwann in meinem Bett aufzuwachen und zu merken, dass alles ein Albtraum gewesen war. Aber als ich aufwachte, war ich immer noch im Zug, nur näher an zu Hause.
Durch das Fenster sah ich die schmuddligen Rückseiten der Häuser an den Gleisen, erhaschte kurze Blicke auf Straßen, in denen die Leute einkauften, auf die Trambahn warteten, mit dem Hund Gassi gingen und ihr normales Leben führten. Zu diesen Leuten gehörten wir nicht mehr, nicht, seit Papa verhaftet worden war. Wir waren die anderen. Diejenigen, von denen anständige, hitlertreue Bürger nichts mehr wissen wollten. Ich sah den Rauch der brennenden Synagoge, der eine Schmutzspur in den blauen Himmel zeichnete, und dann kamen wir an einer Baustelle mit einem Schild vorbei, auf dem stand:
DASS WIR HIER BAUEN, VERDANKEN WIR DEM FÜHRER!
Die ältere Frau erzählte der jungen Mutter von einem tollen Kuchenrezept, das sie gerade in einer Zeitschrift entdeckt hatte.
Als wir zu Hause eintrafen, war Mama zurück. Karl musste ihr eröffnen, dass Onkel Hartmut sich für Papa einsetzen würde, aber nicht für Onkel Markus. Es war schlimm für ihn, ihr das sagen zu müssen. Aber Mama bat Raffi und Tante Edith, sich zu setzen, und überredete sie, bei uns zu übernachten, falls die SA-Männer zurückkehrten. Das war gut.
»Vielleicht kommen sie hierher«, sagte Raffi. Er inspizierte in Karls Zimmer gerade das Feldbett, das Katrin für ihn hergerichtet hatte. »Wegen uns seid ihr jetzt in Gefahr.«
Karl setzte sich auf sein Bett und blickte Raffi an. Karl strahlte sogar, wenn er sich aufregte, eine gewisse Ruhe aus.
»Wir sind schon immer in Gefahr gewesen«, sagte er. »Nicht nur wegen euch, auch wegen Papa und seiner Ansichten.«
»Ihr könntet euch anpassen«, hielt Raffi dagegen. Er
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