Nicht ohne dich
fischte das Foto ihrer Mutter aus seinem zerbrochenen Rahmen.
»Vorsicht, Jenny«, sagte sie. »Das Glas ist scharf.«
»Es ist nur in zwei Hälften zerbrochen. Schau, das Bild ist unversehrt.«
Tante Edith hob bekümmert das Hochzeitsfoto von Onkel Markus’ Eltern auf. Das Glas war zersplittert und auf dem Bild prangte ein Stiefelabdruck. Onkel Markus’ Eltern waren tot und Raffi hatte sie nie kennengelernt. Ich konnte mich auch nicht mehr an Papas Eltern erinnern oder an den Vater meiner Mutter. Es gab nur noch meine Omi, die in England geboren war, aber jetzt in Berlin lebte.
Ich entdeckte das Bild von Raffis Onkel Herbert. Es war völlig zerfetzt, das würde man nicht mehr kleben können. Dann sah ich, wie Tante Edith nach einer anderen Fotografie griff. Ich wusste, welche es war. Die von Ursula. Bitte, bitte, dachte ich.
Als sie das Bild hochhob, atmete ich erleichtert auf. Es war heil geblieben, nur das Glas war gesprungen. Ich betrachtete das kleine Mädchen mit Tante Ediths welligen braunen Haaren und den schönen Augen, Raffis ältere Schwester. Sie war im Alter von sechs Jahren, kurz vor meiner Geburt, an Scharlach gestorben. Ich hatte mir immer gewünscht, sie wäre noch am Leben, dann hätte ich eine Art Schwester gehabt.
»Da muss nur das Glas erneuert werden«, sagte ich. Dann reichte ich ihr die anderen Fotos. »Was ist mit den Alben?«
»Die sind unversehrt«, entgegnete sie. »Sie hatten keine Zeit, alles kaputt zu machen; wir waren nur ein Punkt in ihrem Programm.«
Kurz versuchte ich mir vorzustellen, wie jemand eine Liste erstellt hatte; doch das wollte ich mir gar nicht ausmalen. Katrin kam mit dem Kaffee.
»Jetzt machen Sie mal Pause und trinken Ihren Kaffee, Frau Jakobi«, sagte sie. »Die Fotos können Sie mit zu uns nehmen.« Sie betrachtete Ursulas Bild. »Sie war so ein hübsches Mädchen, und gescheit! Ich habe ihre Stimme noch im Ohr, wie sie mit mir sprach, klar und deutlich. Damals war sie bestimmt höchstens anderthalb. ›Guten Morgen, Tatrin. Wie geht’s?‹, hat sie immer zu mir gesagt.«
Tante Edith lächelte Katrin zaghaft zu. Ich drückte sie noch einmal und küsste sie auf die Wange, und ich hasste die Männer, die ihr so wehgetan hatten.
Später ging Katrin weg, um das Mittagessen für uns zuzubereiten. Sie lud auch Frau Tillmann und Frau Janke ein, aber die mussten beide für ihre Männer kochen. Ich sollte im Laden Papa, Onkel Markus und die Jungs holen.
Papa sah von dem Bücherregal auf, an dem er gerade arbeitete. »Wenigstens das hier kriegen wir wieder hin«, meinte er, »und auch einige Bücher sind noch in gutem Zustand.«
»Katrin hat Suppe gekocht, und ich soll euch von Tante Edith bestellen, dass ihr zum Essen kommen sollt«, sagte ich.
»Gleich«, entgegnete Papa. »Wenn wir das Regal hier geklebt haben.«
»Dafür reichen zwei Leute, Raffi«, meinte Onkel Markus. »Geh du schon mal hoch und mach Katrin glücklich. Ich weiß nicht, wann Karl zurückkommt, Jenny, er besorgt noch ein paar Schrauben.«
Raffi kam mit mir nach oben. »Herr Tillmann will uns auch helfen nach Ladenschluss.«
»Wenigstens gibt es noch ein paar gute Menschen«, sagte ich.
»Aber nicht genug«, wandte Raffi ein.
Plötzlich brach es aus mir heraus: »Ich wünschte, ich würde aufwachen.«
Er wusste, was ich meinte. »Ich auch. Habt ihr was Neues von Omi gehört, Jenny?«
Omi war irgendwie auch Raffis Großmutter. Wir waren alle wie eine große Familie, und nun mussten sie wegziehen, weil die Nazis sie nicht haben wollten.
»Ja«, sagte ich. »Ihr Hausmädchen war hier. Es geht ihr besser, aber noch nicht so gut, dass Mama sie allein lassen kann.« Doch auf einmal hatte ich schreckliche Angst, dass Omi vielleicht sterben würde.
»Ich wüsste zu gern, was sie zu alldem sagt.« Raffi ballte die Hände zu Fäusten. »In England würde so was nicht passieren, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und dachte an England. Ich war noch nie dort gewesen, weil wir es uns nicht leisten konnten, ins Ausland zu reisen. Dorthin würde Raffi nun vielleicht ziehen. Wenn wir doch nur alle in England leben könnten, dann wäre alles wieder gut.
Auf dem Tisch stand eine Schüssel Hühnerbrühe mit Eierspätzle.
»Wo bleiben bloß die Männer?«, grummelte Tante Edith.
»Die kommen bestimmt bald«, beruhigte ich sie.
»Dann ist aber die Suppe kalt«, beklagte sich Katrin. An Tante Edith gewandt sagte sie: »Frau Jakobi, haben diese Dreckskerle auch Ihren Schmuck gestohlen?«
»Einen
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