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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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die Beine davon schmerzten, ihnen in diesem Tempo zu folgen. Ich sah, wie die Kippa auf Papas schütterem Haar zur Seite rutschte, und hatte Angst, sie würde gleich herunterfallen. Schrecklich, wenn das passieren würde. Es hätte alles noch schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war. Doch er brachte die Kippa durch einen Ruck mit dem Kopf wieder in die richtige Position. Der Sarg schwankte ein bisschen, weil Papa und zwei der anderen Sargträger hinkten: Papa hatte es der Gestapo zu verdanken und die beiden jüdischen Männer vermutlich auch. Aber wenigstens waren sie nicht tot wie Onkel Markus. Die SS hatte ihn im Konzentrationslager Sachsenhausen so ausgehungert, dass sein Herz gelitten hatte. Bei seiner Entlassung musste er mit dem Krankenwagen ins Jüdische Krankenhaus in Berlin gebracht werden.
    Wir hatten ihn mit der ganzen Familie dort besucht. Aus ihm war ein zerbrechlicher Mann mit einer bläulichen Gesichtsfarbe geworden. Er lag auf einem Berg von Kissen, neben ihm eine Sauerstoffflasche. Beim ersten Mal hatte ich ihn kaum erkannt. Er hatte nach Atem gerungen und nur unter Mühe sprechen können.
    Doch wenn Raffi in den Krankensaal kam und sein typisches Grinsen aufsetzte, während er zwischen den langen Reihen sauberer weißer Betten näher trat, dann hellte sich Onkel Markus’ Miene auf, und er sah fast wieder aus wie früher. Dabei wirkten Raffis Schultern jämmerlich steif, weil er sich immer so anstrengte, fröhlich zu sein. Onkel Markus wäre es ohnehin lieber gewesen, wenn Raffi Berlin verlassen hätte. Er und Tante Edith wollten Raffi bei einem der Kindertransporte mitschicken, die jüdische Mädchen und Jungen nach England in Sicherheit brachten. Aber er weigerte sich. Alle hatten ihn bestürmt, Papa, Mama, Karl und ich. Doch Raffi blieb stur. Er wollte seine Eltern nicht im Stich lassen.
    Nach fünf Monaten Krankheit war Onkel Markus schließlich gestorben, für immer von uns gegangen. Sie hatten ihn ermordet. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Er war mir so groß und stark erschienen. So unerschütterlich.
    Raffi hatte einen Riss in der Jacke, Tante Edith ebenfalls. Ich wusste, was dieser Brauch bedeutete. Die klaffenden Ränder wirkten wie klagende Münder. Am liebsten hätte ich meinem Mantel auch einen Riss zugefügt. Ich weinte die ganze Zeit, konnte einfach nicht aufhören. Und ich war so wütend.
    Nach Omis Tod im letzten Winter war ich schrecklich traurig gewesen – aber sie war an Altersschwäche gestorben. Onkel Markus dagegen war noch zu jung zum Sterben gewesen.
    Die Gebete wurden zum Teil auf Hebräisch gesprochen. Ich verstand nur, was auf Deutsch gesagt wurde, etwa die Worte des Rabbi am Grab: Alles liege in Gottes Hand und niemandem stehe es zu, Gottes Tun anzuzweifeln. Seine Stimme zitterte zwar dabei, aber gesagt hatte er es trotzdem.
    Ich blickte zu Raffi. Er hielt mit der Hand seine Jacke direkt neben dem Riss umklammert. Seine Augen waren verstört vor Schmerz. Gott?, dachte ich. Steht Gott jetzt auf der Seite der Nazis?
    Der jüdischen Sitte nach durften auch keine Fremden die Toten mit Erde bedecken, das hatte uns der Rabbi vor Beginn der Zeremonie erklärt. Dafür waren Verwandte und enge Freunde zuständig, die nicht unbedingt Juden sein mussten. Also Raffi und Tante Edith, Papa und Mama und Karl und ich.
    Raffi und Tante Edith waren die Ersten. Raffis Gesicht zuckte und seine schmalen, sehnigen Handgelenke zitterten, als die helle, sandige Erde von der Schaufel fiel. Tante Ediths Miene war starr und beinahe streng. Ich glaubte, ich würde es nicht fertigbringen, den Sarg zuzudecken, aber als ich an der Reihe war, spürte ich zu meiner Überraschung einen seltsamen Frieden in mir. Ich nahm eine Schaufel voll Erde und ließ sie weich ins Grab rieseln. Dabei flüsterte ich: »Schlaf gut, Onkel Markus.« Und ein neuerlicher Regenguss sprenkelte die Erde wie Tränen.
    Doch der Friede in mir war nicht von Dauer. Als ich mich aufrichtete, brannten in mir bereits wieder Kummer und Zorn.
    Mama umarmte Tante Edith und Raffi, und Raffi barg seinen Kopf an ihrer Schulter. Er umfasste Papas Hand mit beiden Händen, drückte sie fest und sagte: »Danke. Danke, dass ihr gekommen seid.«
    »Das war doch selbstverständlich. Markus war wie ein Bruder für mich, Raffi, das weißt du doch …«, entgegnete Papa, und dann versagte ihm die Stimme. Karl klopfte Raffi nur auf die Schulter und schluckte schwer. Karl war jetzt in der Hitlerjugend. Er hatte Mitglied werden müssen, weil

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