Nicht ohne dich
ein neues Gesetz alle nichtjüdischen Jugendlichen verpflichtete, in die Jugendorganisationen der Nazis einzutreten. Ein Hitlerjunge hatte also Onkel Markus’ Sarg getragen.
Raffi war mittlerweile vierzehn, hochaufgeschossen und spindeldürr. Seine Haare waren immer noch blond, und seine Nase war so groß und höckerig geworden, dass sie nicht mehr in sein Gesicht zu passen schien. Er hielt meine Hände, und ich blickte in seine graublauen, rot geränderten Augen. Auf seiner Wange klebte ein bisschen Schmutz. Ich drückte seine Finger. Ich wollte ihm sagen, was ich von den hundsgemeinen Nazis hielt, die Onkel Markus umgebracht hatten, aber mir blieben die Worte im Halse stecken, und ich begann wieder zu schluchzen.
»Danke, Jenny«, sagte Raffi. Er war gerade im Stimmbruch und seine Stimme klang jetzt rau und tief. Plötzlich beugte er sich vor und küsste mich auf die Wange. »Einfach nur – danke.«
Am Sonntag darauf sagte Mama, sie würde Papa zur Quäkerandacht begleiten, und Karl und ich schlossen uns ebenfalls an. Ich glaube, keiner von uns wollte Papa allein gehen lassen.
Der Versammlungsraum der Quäker war nichts Großartiges; verkratzte Stühle, Wände, die einen frischen Anstrich vertragen hätten, und in der Zimmermitte ein ausgebleichter Orientteppich. Doch auf dem Tisch, der auf dem Teppich stand, prangten rot-gelbe Rosen in einer Vase, ein leuchtender Farbtupfer in dem kahlen Raum. Ich weiß noch, dass ich sie ansah und mir ihrer Schönheit bewusst war, jedoch nichts dabei empfand, als wäre mein Gefühl dafür ausgeknipst.
Ich saß still neben Papa und wartete. So verrichteten die Quäker ihren Dienst. Für Gott. Allerdings machten mir all die bitteren, wütenden Gefühle Angst, die jetzt in mir aufloderten wie ein Feuer. Wieder blickte ich zu den Blumen, und jetzt schienen sie zu brennen. Reihum betrachtete ich die ernsten Gesichter der Quäker. Allein ihre Anwesenheit hier war ein Akt des Widerstands gegen Hitler. Vermutlich waren auch Juden darunter und sogenannte »Nichtarier«, wie die Nazis Menschen halbjüdischer Herkunft nannten. Und vielleicht auch Gestapospitzel. Wenn jemand das Bedürfnis verspürte, aufzustehen und etwas zu sagen, würde er seine Worte sorgfältig wählen müssen. Die Quäker durften nicht offen aussprechen, dass sie überzeugte Pazifisten waren. Pazifismus verstieß gegen die Nazigesetze; wenn man sich ehrlich dazu bekannte, landete man im Konzentrationslager.
Ich dachte an Raffi und Tante Edith. Als Onkel Markus krank geworden war, hatten sie angefangen, samstags die Synagoge zu besuchen und am Freitagabend das Sabbatmahl zu feiern. Ein paar Mal hatten sie uns auch dazu eingeladen. Tante Edith hatte die Sabbatkerzen angezündet und Raffi einen Segen gesprochen. Obwohl er ein bisschen nervös und verlegen gewesen war, hatte er dabei vor Freude gestrahlt, und uns war es als etwas ganz Besonderes und sehr Bedeutungsvolles erschienen. Wir hatten für Onkel Markus gebetet, aber genützt hatte es nichts, er war trotzdem ermordet worden. Und der Rabbi hatte am Grab gesagt, es sei Gottes Wille gewesen und wir müssten uns damit abfinden.
Voller Zorn zweifelte ich an, dass es überhaupt einen Gott gab. Vielleicht war der ja auch nur erfunden wie der Weihnachtsmann. Papa sagte immer, in jedem von uns sei etwas Göttliches – etwa auch in den Nazis?, fragte ich mich.
Ein Mann mit schütteren Haaren und runder Brille erhob sich. Er sprach darüber, dass man seinen Nächsten lieben solle und dass der Nächste jeder Mensch sei, der Hilfe brauche. Ich wusste, dass er damit die Juden meinte. Mir fiel ein, dass Papa manchmal ausging und uns nicht sagte, wohin. Wir fragten nie nach, weil wir wussten, dass es besser so war. Vielleicht war auch dieser Mann in ähnlicher Weise heimlich aktiv. Nachdem er sich gesetzt hatte, herrschte langes Schweigen.
Ich fing an, mir Gedanken darüber zu machen, ob es Krieg geben würde. Alle hatten Angst davor, weil Hitler immer mehr Gebiete einnahm. Österreich und die Tschechoslowakei waren bereits besetzt, und Papa war sicher, dass er als Nächstes in Polen einmarschieren würde. Dann würden uns Großbritannien und Frankreich den Krieg erklären, und jeder männliche Quäker wäre vor die Entscheidung gestellt, entweder in den Krieg zu ziehen oder den Kriegsdienst zu verweigern und daraufhin als Vaterlandsverräter aufgehängt zu werden. Papa würde nicht verweigern, das wusste ich, weil ich gehört hatte, wie er es zu Mama gesagt hatte.
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