Nicht ohne dich
Sie hatte erwidert: »Gott sei Dank.« Ich war unbemerkt im Flur gewesen, während sie im Wohnzimmer saßen.
»Es ist besser, wenn ich am Leben bleibe und tue, was ich kann, anstatt als Märtyrer zu sterben«, hatte Papa gemeint, und Mama hatte ihn gefragt: »Was ist mit mir und den Kindern? Lohnt es sich nicht, auch für uns weiterzuleben?« Darauf war keine Antwort gekommen, aber ich hatte irgendwie gespürt, dass er sie umarmte. Leise war ich in mein Zimmer zurückgeschlichen, damit sie nicht merkten, dass ich sie gehört hatte.
Papa würde ohnehin wieder zur Sanitätstruppe kommen, wo er bereits im letzten Krieg eingesetzt war. Er würde also nicht an Kampfhandlungen teilnehmen müssen, sondern Verwundete pflegen. Das freute mich eigentlich für ihn, aber jetzt dachte ich dennoch: Vielleicht hätte er gegen Hitler kämpfen und seine Machtergreifung in Deutschland verhindern sollen. Ein schockierender Gedanke, der mich jedoch beschäftigte. Ich spann den Faden weiter: Selbst wenn er nicht aktiv gegen Hitler kämpfen wollte, hätte er sich ja um verwundete Widerstandskämpfer kümmern können. Gar nicht zu reden von Onkel Markus, der so stolz auf seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg gewesen war, bloß gegen Hitler hatte er nichts unternommen. Und jetzt hatte Hitler ihn umgebracht.
Dann stand Papa auf, um etwas zu sagen. Zum ersten Mal, das wusste ich. Sonst erklärte er immer: »Ich habe noch nie einen Redebeitrag geleistet, aber das ist schon in Ordnung.« Zunächst zögerte er und ich dachte schon: Und wenn er nun nichts herausbringt? Ich war besorgt und peinlich berührt, doch dann begann er schließlich zu sprechen.
Er sagte: »Freunde, wir leben in dunklen Zeiten, und noch dunklere stehen uns bevor. Aber es ist die Tradition der Quäker, nach einem Ausweg zu suchen und darauf zu bauen, dass sich uns ein Weg weisen wird. Dieses Vertrauen wird in den kommenden Zeiten umso wichtiger werden.«
Er setzte sich wieder. Als sein Arm meinen streifte, spürte ich, dass er zitterte. Mama, die an seiner anderen Seite saß, nahm seine Hand. Er drückte sie seufzend. Sein Zittern legte sich. Ich wusste, was er mit dem Weg meinte, zu Hause redete er oft davon. Er hatte mir erklärt, wenn die Quäker nicht mehr weiterwüssten, würden sie Gott um Rat bitten, und normalerweise zeigte er ihnen dann einen Weg.
Jetzt überlegte ich, ob das womöglich nur bedeutete, dass ihnen eine Lösung einfiel. Vielleicht wurden die guten Taten in Wahrheit von den Menschen vollbracht, und sie fühlten sich besser, wenn sie behaupteten, es sei Gott gewesen. Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte ich. Meinen negativen Gedanken hätte ich genauso gut zu Hause nachhängen können. Hoffentlich konnte Papa sie mir nicht vom Gesicht ablesen.
Nach der Andacht kam ich mit einer Quäkerin ins Gespräch, einer Frau mittleren Alters mit freundlichen grauen Augen und unfrisierten grau melierten Haaren. Aus der Tasche ihres erdverschmutzten Mantels ragte eine Gartenschere – wahrscheinlich hatte sie die Rosen mitgebracht. Als ich sie drauf ansprach, erklärte sie, die Blumen seien aus ihrem Garten. Sie lebte in Dahlem. »In der Quellengasse«, sagte sie lächelnd.
Ihr Name war Agnes Hummel. Die Quäker redeten sich nicht mit »Herr« oder »Frau« oder irgendwelchen Titeln an. Selbst als Gräfin Agnes von Hummel wäre sie für die Quäker einfach Agnes Hummel geblieben, denn ihrem Glauben nach waren vor Gott alle Menschen gleich.
Ich sagte, ich hätte auch gern einen Garten, für unseren Hund. Sie erzählte mir von ihren beiden Rauhaardackeln, die sie ständig davon abhalten müsse, in den Blumenbeeten herumzubuddeln. Muffi wühle auch manchmal in den Blumenbeeten in unserem Hof herum, sagte ich, und Janke rege sich immer furchtbar darüber auf.
Damals hatte ich keine Ahnung, wie wichtig diese Begegnung mit Agnes Hummel noch für mich werden sollte. Ich machte höfliche Konversation, dabei wollte ich eigentlich nur nach Hause.
Als wir unsere Straße entlanggingen, kamen wir an dem Laden vorbei, an dem einst gestanden hatte:
ANTIQUARIAT JAKOBI
Jetzt hieß es dort:
SCHREIBWAREN UND BÜCHER MINGERS
Im Schaufenster, unter einem gerahmten Bild von Adolf Hitler in seiner braunen Uniform und mit einer Miene, die die Leute für heroisch hielten, stand ein Pappschild. Es verkündete der Nachbarschaft:
DASS WIR DIESES GESCHÄFT ÜBERNEHMEN KONNTEN, VERDANKEN WIR DEM FÜHRER.
Kurz nach der Kristallnacht – so nannten die Nazis ihre Orgie aus
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