Nicht ohne dich
Tante Edith und Raffi ein besseres Gefühl.
Im März darauf durften Juden kein Hühnchen, keinen Fisch, kein geräuchertes Fleisch und keine Milch mehr kaufen. Mama und Karl brachten Tante Edith und Raffi auch das nach Hause. Es war verboten, Juden mit Lebensmitteln zu versorgen, für die sie keine Zuteilung hatten, deshalb taten sie es nachts. Katrin regte sich immer furchtbar auf, wenn Mama sich allein auf den Weg machte. Sie kannte alle möglichen Geschichten darüber, wie gefährlich es während der Verdunklung draußen war, zum Beispiel die von dem ermordeten Mädchen, von dem anschließend an sämtlichen Berliner Bahnhöfen einzelne Körperteile gefunden wurden.
»Ein typisches Beispiel für preußische Gründlichkeit«, meinte Karl. »An sämtlichen Bahnhöfen.«
»Darüber macht man keine Witze«, beharrte Katrin. »Da draußen laufen Männer mit Messern herum und halten Ausschau nach Frauen, die sie niedermetzeln können. Und Schlimmeres. Und immer wieder bricht sich jemand den Knöchel, weil er im Dunkeln über etwas stolpert …«
»Mir passiert schon nichts, Katrin«, beruhigte Mama sie. Aber auch ich hatte Angst um Mama.
Eines Tages dann war ich an der Reihe. Ich bekam die Einkaufstasche und die Anweisung, Raffi am Zoo zu treffen und ihm die Tasche ganz beiläufig zu übergeben. Bei Tage. Mama hatte zwar selbst keine Angst vor den Männern mit den Messern, aber was mich betraf, wollte sie kein Risiko eingehen.
»Wir müssen uns immer wieder was anderes einfallen lassen«, erklärte Mama. »Und es hat schnell über die Bühne zu gehen, Jenny. Kein Herumstehen, kein Geplauder. Sag Raffi nur, dass ich nächsten Donnerstag zu ihnen komme. Und vergewissere dich zuvor, dass keine Polizisten in der Nähe sind.«
Raffi war wieder gewachsen und trotz der Extrarationen mager. Aber als er mich sah, grinste er mich an.
»Keine Polizisten in der Nähe«, sagte er, »das habe ich schon überprüft. Hör mal, du musst doch nicht gleich wieder weg, oder? Nur ein paar Minuten. Ich habe dich vermisst.«
»Echt?«, sagte ich. Ich freute mich so, ihn zu sehen. »Hast du denn sonst niemanden zum Ärgern?«
Er streckte die Hand aus und zupfte mich am Haar. »Nein, nicht so richtig.« Aber das war nur Flachserei – dass er mich an den Haaren gezogen oder mir Spielsachen weggenommen hatte, für die er Lösegeld verlangte, lag lange zurück.
Es war ein herrlicher Frühlingstag und wir schlenderten am Zoo entlang. Raffi schwenkte die Tasche, dass alles durcheinanderpurzelte. Ich hatte Karotten und Kartoffeln mitgebracht und außerdem Fleisch und Milch, weil Juden nur noch zwischen vier und fünf Uhr nachmittags einkaufen durften, wenn die meisten frischen Lebensmittel schon ausverkauft waren.
Ich blickte zum Zootor. »Weißt du noch unsere Mutprobe, wer sich traut, die Scheibe direkt vor den Mäulern der Giftschlangen zu berühren?«
Raffis Kiefermuskeln spannten sich an. »Ich darf da jetzt nicht mehr rein.«
Wie dumm und gedankenlos von mir. Ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte.
Dann meinte Raffi achselzuckend: »Ist halb so schlimm. Ins Theater dürfen wir auch nicht mehr gehen, aber die jüdischen Organisationen veranstalten Konzerte und Aufführungen für uns.« Er zog eine Grimasse. »Die Nazis schneiden sich ins eigene Fleisch. Wir bekommen Künstler von Weltrang geboten, die sie sich selbst nicht ansehen dürfen.«
Da hörten wir den Zeitungsjungen vorn in der Straße rufen.
»Extraausgabe! Neueste Nachrichten!«
Raffi und ich sahen uns an, dann sausten wir im Laufschritt zu dem Jungen, der verkündete: »Unsere Truppen marschieren in Norwegen und Dänemark ein! Extraausgabe! Neueste Nachrichten!«
Mir wurde ganz mulmig zumute. »Ich dachte, Dänemark hätte einen Pakt mit uns und wir müssten sie in Frieden lassen«, sagte ich.
»Da kannten sie Hitler wohl schlecht«, meinte Raffi.
»Vielleicht schicken sie Papa dorthin.«
Raffi sah mich an. »Lazarette und Krankenwagen werden nicht angegriffen.« Damit wollte er mich nur beruhigen. Das mulmige Gefühl wurde stärker, und ich wollte nur noch nach Hause. Zwar ließ ich Raffi ausgerechnet jetzt nur ungern zurück, aber wir hatten ja bereits gegen Mamas Anweisungen verstoßen und sie sah bestimmt schon ungeduldig auf die Uhr und wartete auf mich. Auf dem Heimweg über den Kurfürstendamm kam es mir vor, als begegnete mir alle zehn Schritte ein Zeitungsjunge mit einer Extraausgabe.
Am nächsten Morgen marschierte unser Erdkundelehrer mit einer
Weitere Kostenlose Bücher