Nicht ohne dich
fröstelnd. »Dabei könnte ich jetzt gut eine Fettschicht gebrauchen, die mich warm hält. Das liegt eben an der Rationierung. Aber da sieht man mal wieder, dass alles Schlechte auch sein Gutes hat – in meinem Alter noch ein bisschen abzunehmen …«
Dabei war sie gar nicht richtig dick, sondern hatte eine gemütliche Omafigur. Ihre Haare hatte sie im Nacken zu einem grauen Knoten gesteckt und sie trug kleine Perlenohrclips. Ob mollig oder dünn, sie wirkte stets schick, weil sie alle ihre Kleider bei Mama nähen ließ und Mama eine ausgebildete Damenschneiderin war. »Du bist immer so elegant, Sylvia, egal, was du trägst«, pflegte Tante Grete zu sagen. Obwohl Tante Grete ein Vermögen für ihre Garderobe ausgab, sah sie nie so gut aus wie Mama. Es fehlte ihr einfach an Geschmack.
Ich musste eine langweilige Übersetzung vom Englischen ins Deutsche machen. Das war kinderleicht, weil Omi mir Englisch beigebracht hatte. »George takes a boat out on the river Thames. It is a delightful sunny day and the willows trail their leaves in the water: George fährt mit dem Boot auf die Themse hinaus. Es ist ein herrlich sonniger Tag und die Blätter der Weiden hängen ins Wasser.« Aber ich fragte mich, was George wohl tatsächlich im Augenblick tat. Vielleicht bereitete er sich gerade darauf vor, einen Luftangriff auf Berlin zu fliegen, vielleicht musste er eine Ladung Benzinkanister auf uns abwerfen.
Frau Tillmann sagte: »Tja, Krieg hin oder her, wir müssen uns jedenfalls trotzdem um unsere Garderobe kümmern.«
Wie konnte sie nur?, dachte sie. Hatte sie denn keine Angst?
»Hoffen wir bloß, dass es besser ausgeht als im letzten Krieg. Sie sehen müde aus, Frau Friedemann. Den ganzen Tag in der Werkstatt und nach Feierabend noch die Anproben. Wie läuft eigentlich das Geschäft?«
»Ziemlich rege«, entgegnete Mama. »Die alten Puppenspieler kehren aus dem Ruhestand zurück, um vor der Truppe zu spielen, und brauchen neue Marionetten. Wir verkaufen gut momentan.«
»Dann sollten Sie mit dem Schneidern kürzertreten«, riet Frau Tillmann.
Mama schüttelte den Kopf. »Irgendwann ist der Vorrat zu Ende, und wovon soll ich leben, wenn sich meine Kundinnen in der Zwischenzeit eine andere Schneiderin gesucht haben? Das ist das Problem, Frau Tillmann.«
»Die kommen schon wieder zu Ihnen zurück«, meinte Frau Tillmann, ließ den halbfertigen Rock hinuntergleiten und schnappte sich ihren alten. »Qualität setzt sich durch, Sie werden sehen.«
Ich wusste, dass Mama ihren Rat nicht befolgen würde. Dafür liebte sie das Schneidern viel zu sehr.
An jenem Abend saß ich am Esstisch und blickte zu dem leeren Platz, wo Papa immer gesessen hatte. Ich fantasierte vor mich hin: Wenn er doch nicht bei der Wehrmacht wäre, sondern unten in der Werkstatt und bei der Arbeit die Zeit vergessen hätte, dann würde Mama mich gleich runterschicken, um ihn zu holen. Ich stellte mir vor, wie schrecklich er es finden musste, in Polen zu sein.
Katrin brachte die Kartoffeln. »Frau Friedemann, der Krämer hat gesagt …« Sie stellte die Schüssel vor Mama ab und fing an, den Gemüseeintopf mit ein paar Brocken Rindfleisch (ein guter Eintopf, auch wenn wir damals anderer Ansicht waren) auszuteilen. »… dass er an Juden keine Schokolade und keinen Kuchen mehr verkaufen darf. Und man hat die Juden nicht offiziell darüber informiert; die Ladenbesitzer müssen warten, bis sie danach verlangen, und es ihnen dann verweigern.«
»Wie bitte?«, fragte Mama. Ich sah das schreckliche Bild vor mir, wie Tante Edith Raffi zu Weihnachten Schokolade kaufen wollte und der Krämer ihr sagte, für Juden gebe es keine. Was für eine Demütigung, vielleicht auch noch vor anderen Kunden – gewiss wurde es mit Absicht so gehandhabt. Ich hatte gute Lust, jemanden dafür zu ohrfeigen, aber Katrin hatte eine bessere Idee.
»Na ja, Frau Friedemann, ich dachte, wir haben doch reichlich davon …«
Schokolade und Süßigkeiten bekam man noch ohne Marken. Allerdings hatten wir wegen Katrins guter Beziehungen zum Schwarzmarkt auch niemals Mangel an rationierten Lebensmitteln.
»Aber natürlich«, sagte Mama.
So fing es an. Wir brachten Tante Edith und Raffi Schokolade, Stollen und Lebkuchen mit, als wir mit ihnen Weihnachten feierten. Karl schleppte einen Sack Kohle für den Ofen an, weil sie viel weniger Heizmaterial hatten als wir, und Mama sagte, sie habe einen von Tante Ediths Ringen verkauft, um alles zu bezahlen. Das war gelogen, aber es gab
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