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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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zusammengerollten Karte ins Klassenzimmer, entrollte sie und riss sie in der Mitte durch.
    » Das ist die alte Karte von Europa«, verkündete Klotz triumphierend. »Die ist überholt. Jetzt seht euch die neue Karte an.« Er begann an die Tafel zu zeichnen. »Es wird Geschichte geschrieben, Mädchen. Wäre ich bloß nicht im letzten Krieg am Knie verwundet worden! Ich brenne darauf, unsere Jungs zu unterstützen.«
    Er hatte ein fleischiges Gesicht und große Nasenlöcher wie ein Schwein, die noch breiter wurden, wenn er lächelte. Ich sah zu Paula neben mir. Sie verdrehte die Augen zur Decke.
    »Das würde ich mir auch wünschen!«, murmelte sie.
    Klotz war flink mit der Kreide. Nach zehn Minuten hatte er Europa skizziert. »Es ist wundervoll für einen Mann«, sagte er, während er Dänemark und Norwegen mit Hakenkreuzen versah, »für sein Land kämpfen zu dürfen.«
    Paula nahm einen Bleistift und kritzelte in ihr Schmierheft: Und für uns Mädchen, die siegreichen Helden mit unserem arischen Körper zu erfreuen. Ich unterdrückte einen Lachanfall.
    Klotz fuhr fort: »Die Frauen und Mädchen werden natürlich zu Hause gebraucht, damit sie das Mannsvolk unterstützen – Jenny Friedemann, was ist das für eine Unruhe bei euch?«
    »Entschuldigung, Herr Klotz«, brachte ich keuchend hervor. »Ich habe Husten.«
    Paula hatte schon angefangen, ihre Notiz auszuradieren. Klotz schickte mich raus, um einen Schluck Wasser zu trinken.
    Nicht lange danach – in unserem Garten blühte der Flieder – zeichnete Klotz Panzer mit Hakenkreuzen auf seine Karte, die Kurs auf Frankreich nahmen. Und zwar durch Belgien, Holland und Luxemburg, deren Neutralität Hitler ebenfalls ignorierte. Papa wurde mit Generalmajor Rommel nach Frankreich geschickt. Er gehörte einer Sanitätseinheit an und assistierte am Rande des Schlachtfelds bei Operationen, während ihnen die Granaten um die Ohren flogen. Selbst wenn er nicht direkt angegriffen wurde, konnte er versehentlich getötet werden. Bald zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn es an der Tür klopfte – es hätte ja ein Telegramm sein können.
    Mama schickte mich nicht noch einmal mit Lebensmitteln zu Raffi. Ich wollte ihn sehen, traute mich aber nicht zu fragen, weil Mama dann denken würde, dass wir ihre Anweisungen missachten und die Gelegenheit zum Plaudern nutzen würden. Genau das hatte ich natürlich im Sinn. Inzwischen errang Deutschland Sieg um Sieg. Als ich einmal von der Schule nach Hause kam, traf ich Frau Tillmann auf der Treppe, und sie sagte zu mir: »Die Aussichten sind günstiger geworden. Nachdem wir die Engländer aus Frankreich vertrieben haben, werden sie Frieden schließen. Dein Vater kommt bestimmt ganz bald nach Hause, du wirst sehen.«
    Doch in der Wohnung fand ich Mama weinend auf dem Wohnzimmersofa.
    »Was ist passiert?«, fragte ich. Mir war angst und bange. Ich sah mich um; keine Spur von einem Telegramm, aber vielleicht hatte sie es im Flur fallen gelassen. »Ist was mit Papa, Mama?«, zwang ich mich zu fragen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wegen Papa.«
    Vor Erleichterung musste ich mich erst mal hinsetzen. Ich sank neben ihr aufs Sofa. »Was dann?«
    »Ach, die Nachrichten«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, als würde es Nacht über Europa. Und ich möchte nicht, dass Hitler England einnimmt – und ich mache mir solche Sorgen, dass euer Vater doch noch den Kriegsdienst verweigert, Jenny, selbst als Sanitäter, weil er ja trotzdem am Krieg teilnimmt, und dann hängen sie ihn auf …« Sie biss sich auf die Unterlippe.
    »Ich hätte dich damit nicht belasten sollen«, sagte sie. »Jetzt machst du dir auch noch Sorgen.«
    »Aber Mama, ich bin doch kein kleines Kind mehr«, entgegnete ich.
    Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Er hat ja gesagt, dass er kein Märtyrer sein will und an uns denkt. Er hat gesagt, dass er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, sich um Verwundete zu kümmern.« Sie nahm ihr Taschentuch und putzte sich die Nase. »Jetzt geht es schon wieder«, sagte sie. »Ich musste mich nur mal ausweinen.« Aber ich hörte ihrer Stimme an, dass es ihr keineswegs wieder gut ging.
    In jener Nacht lag ich im Bett, starrte in die tiefschwarze Dunkelheit und versuchte Papa meine Gedanken zu schicken: Entschließe dich bitte nicht, den Kriegsdienst zu verweigern, Papa. Tu das nicht. Bleib für uns am Leben.
    Und dann kam Hitler nach Berlin, um den Sieg über Frankreich zu feiern – und wir gingen mit der Schule hin.

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