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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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Paulas Mutter entschuldigte Paula wegen Krankheit, aber Mama meinte, damit könnten wir uns verdächtig machen, und das durften wir nicht, weil wir uns um Tante Edith und Raffi kümmern mussten.
    Stundenlang standen wir da und warteten. Mir taten die Beine weh und ich hatte furchtbaren Durst. Die Menschen sangen und schwenkten Fahnen. Wir hatten Blumen mitbringen müssen, um sie auf die Straße zu streuen. Ich hatte Flieder dabei. Jetzt lag er dort auf der Straße und wartete darauf, von den Reifen des Führerautos platt gemacht zu werden. So dachte ich anfangs, bis mir klar wurde: Ich würde Hitler sehen! Wie er wohl sein würde?
    Plötzlich war ich richtig aufgeregt, ich wollte ihn unbedingt sehen. Es war so ähnlich, als würde man Bonbons essen, von denen man wusste, dass einem davon schlecht wurde. Ich wollte auf einmal einfach so sein wie all die anderen Mädchen, von denen viele ihre BDM-Uniform trugen, aber ich hatte ja keine. Dafür sah ich in meinem Dirndl wie ein richtiges deutsches Mädel aus. Und dann hörten wir ein Tosen, das auf uns zukam: Er war im Anmarsch. Der Führer, dieser ganz besondere Mensch, auf den wir alle warteten. Auf einmal waren Tante Edith und Raffi und sogar Papa vergessen, dieses Tosen, die vielen Menschen, die nach Hitler riefen, bewirkten irgendwie, dass all meine Gedanken, all meine Gewissheiten wie weggeblasen waren. Nur eines schien noch wichtig: dabei zu sein, als Deutsche unter Deutschen.
    Jungen in HJ-Uniform kletterten auf Laternenpfähle, um besser sehen zu können, und wir streckten alle den Arm zum Gruß aus, auch ich rief unversehens mit den anderen zusammen »Heil!«. Da stand ich in meinem Dirndl und grüßte, und er kam angefahren, stehend in seinem Mercedes mit einer Schirmmütze und einem langen Mantel, und grüßte zurück. Als er uns Mädchen sah, lächelte er uns zu, nur uns. Ich glaubte, dass sich unsere Blicke einen Moment lang kreuzten, er hatte tiefblaue Augen, und sein Gesicht sah so freundlich aus – und dann war er vorbei. Wir weinten alle und sagten: »Er hat uns angeschaut! Der Führer hat uns angeschaut!«
    Danach wollte ich gar nicht nach Hause. Ich war noch ganz kribbelig vor Aufregung und fühlte mich eigenartig, wie von Grund auf verwandelt. Immer wieder musste ich an Hitlers freundliches Gesicht denken und wie wir alle nach ihm gerufen hatten, und wie überzeugt und glücklich und gewiss ich gewesen war, als ich mitgerufen und dazugehört hatte. Ich wollte nicht wieder eine Außenseiterin sein.
    Nur dass ich nirgendwohin konnte als nach Hause, und als mir das bewusst wurde, fiel alle Fröhlichkeit von mir ab und ich begann angstvoll zu zittern. Jetzt war ich wieder das Mädchen, das ich zuvor gewesen war, das Mädchen mit seinen jüdischen Freunden, die es liebte – aber was hatten wir schon für eine Chance, angesichts all der Menschen, die Hitler zugejubelt hatten? Und dann überkam mich Scham, weil ich auch mitgejubelt hatte. Was wohl Tante Edith und Raffi empfinden würden, wenn sie es wüssten? Wie hatte ich das nur tun können? Ich kam mir vor wie eine Verräterin.
    Zu Hause fragte mich Mama, wie es gewesen war und ob ich recht müde sei vom langen Stehen. Ich lief in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich hatte Angst, dass sie mir nachkommen würde, aber das tat sie nicht. Vollkommen durcheinander und mit mir selbst im Unreinen setzte ich mich aufs Bett. Mein Blick fiel auf Pinocchio und ich dachte, dass ich am Nachmittag beinahe zu einer Marionette geworden war und wie gut ich mich dabei gefühlt hatte, einmal nicht gegen den Strom schwimmen zu müssen.
    Herr Mingers war ebenfalls in Frankreich. Er schickte Frau Besenstiel eine Pelzstola, die sie mit einem verkniffenen, triumphierenden Lächeln vorführte.
    »Jetzt«, sagte sie und strich über den seidigen Pelz, »beißen die Franzmänner ins Gras. Jetzt bekommen sie die Niederlage zu schmecken.«
    »Wem hat er das Ding denn geklaut? Bestimmt einer Frau, die hübscher war als sie, da wette ich«, bemerkte Karl.
    Ich lachte, aber mir war ganz und gar nicht wohl dabei. Denn zu meinem Schrecken wusste ich jetzt aus eigener Erfahrung, wie gut man sich dabei fühlen konnte, zu den Nazis zu gehören.
    Die ersten Bomben fielen auf Berlin. Noch nicht auf uns. Aber wenn die Sirenen losgingen, mussten wir trotzdem in den Keller.
    »Unsere Piloten legen London in Schutt und Asche«, freute sich Klotz am nächsten Tag, als er auf seiner »dynamischen Karte«, wie er sie nannte,

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