Nicht ohne dich
Papa, und jetzt würde sie auch noch Norbert verlieren. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber einen Augenblick lang tat sie mir tatsächlich leid.
»In Bayern ist die Luft frisch und gesund«, sagte ich.
»Ja«, antwortete Frau Mingers und schob die Jungen die Treppe hinunter. »Dort gibt es keine Juden, die sie verpesten. Auch keine Rassenschänder, hoffe ich. Heil Hitler!«
Kurze Zeit später schickte mich Mama wieder los, um Raffi Lebensmittel zu bringen. Dieses Mal sollte die Übergabe vor dem Rathaus stattfinden. Ich ließ mir meine Freude nicht anmerken, machte mich jedoch zeitig auf den Weg. Es war ein warmer Oktobernachmittag. Während ich neben dem riesigen roten Gebäude auf und ab ging, beobachtete ich einen Soldaten auf Heimaturlaub, der mit seiner Freundin auf einer Parkbank saß. Erst übersäte er ihr Gesicht mit kleinen Küsschen, ehe sich plötzlich ihre Lippen fanden und richtig aneinander festsaugten, eine ganze Weile lang. Ich starrte sie an, doch dann wurde mir heiß vor Scham, und ich musste wegsehen. Wenn doch nur Raffi endlich käme. Eine Schar Tauben landete auf dem Trottoir und stolzierte gurrend umher. Auf einmal stand Raffi direkt neben mir.
»Raffi!«, begrüßte ich ihn. »Ich habe ein bisschen Geld. Gehen wir in ein Café Kuchen essen.«
Da erlosch das Grinsen auf seinem Gesicht. »Ich kann dich nicht für mich zahlen lassen.«
»Tante Grete hat mir zwei Mark geschenkt. Das ist Nazigeld, und sie würde Gift und Galle spucken, wenn sie wüsste, dass ich dir davon Kuchen kaufe.« Er wollte nicht einlenken, aber da kam mir noch eine Idee. »Sie haben es wahrscheinlich sowieso von Juden gestohlen.«
»Oh!«, sagte er und seine Miene hellte sich auf. »Na gut, Jenny. Aber eines Tages, wenn das alles vorbei ist, dann werden Mama und ich uns bei euch so richtig revanchieren, hörst du?«
Auf dem Platz um die Ecke fanden wir ein kleines Café mit Tischen im Freien. Als wir uns setzten, waren wir sofort von Tauben und Spatzen umgeben, die zu unseren Füßen Krümel suchten. Die Einkaufstasche stellte ich unter den Tisch. Da es auf dem Platz ziemlich laut zuging, konnten wir uns frei unterhalten, ohne dass jemand unsere Worte verstand. Wir suchten uns im Café an der Theke den Kuchen aus, dann setzten wir uns wieder nach draußen und bestellten Apfelsaft dazu – in Restaurants und Cafés brauchte man noch keine Lebensmittelmarken, allerdings beschwerten sich die Gäste oft über die schlechte Qualität. Raffi erzählte mir ein bisschen von seiner Schule und den anderen Jungen, dann fragte er: »Was ist in der Tasche?«
»Geräucherter Schinken«, sagte ich, »und Tilsiter Käse und eine Dose Sardinen und ein Blumenkohl und eine Tafel Schokolade.«
Beim Gedanken an Schokolade ging ein Leuchten über sein Gesicht – und dann stand plötzlich ein Polizeibeamter vor uns.
»Die Ausweise bitte!«, rief er.
Ich dachte: Das darf doch nicht wahr sein. Aber es war doch wahr und es war alles meine Schuld. Raffi durfte eigentlich kein Café besuchen und ich hatte ihn überredet. Was würde jetzt mit ihm passieren? Wahrscheinlich kam er ins Konzentrationslager. Vielleicht würden sie ihn töten. Ich fröstelte und mir war schlecht.
Jetzt stand der Polizeibeamte neben uns. Ich sah seinen grünen Uniformärmel, als er uns die Hand entgegenstreckte. »Macht schon, ihr zwei.«
Er sagte es ganz freundlich, aber das war irgendwie noch schlimmer. Eine Taube spazierte gurrend unter den Tisch, sie hatte keine Sorgen. Ich zeigte meinen Ausweis.
Raffi kramte mit großem Theater in seinen Jackentaschen. »Oje«, sagte er, »ich habe ihn zu Hause vergessen.« Er blickte dem Polizisten mit seinen blauen Augen ins Gesicht. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich mit einem ängstlichen, kleinlauten Grinsen.
Der Polizist schüttelte den Kopf, aber seine Mundwinkel zuckten. Es funktioniert, dachte ich. Hoffentlich funktioniert es noch weiter. »Ich müsste dich eigentlich mit aufs Revier nehmen und deine Eltern bitten, deinen Ausweis zu bringen«, sagte er. »Die wären wohl nicht gerade erfreut, was?«
Raffi ließ den Kopf hängen und machte Anstalten aufzustehen, um mit ihm zu gehen. Ich ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten und dachte: Bitte, bitte, bitte.
Da legte der Polizist Raffi die Hand auf die Schulter. »Keine Bange, mein Junge«, meinte er gutmütig. »Aber nächstes Mal denkst du dran, deinen Ausweis mitzunehmen, in Ordnung?«
Als er weg war, konnte ich endlich erleichtert
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