Nicht ohne dich
Reichsmark und Essensmarken aus seiner Tasche und zeigte sie mir kurz. »Ich habe auf der Straße eine Brieftasche gefunden. Ich hätte sie wohl bei der Polizei abgeben sollen, aber«, er zuckte die Achseln, »der Besitzer ist ein Fördermitglied der SS. Das weiß ich von seiner Mitgliedskarte, die auch drin war. Also habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich sein Geld nehme.«
»Die Marken werden ihm ohnehin ersetzt, wenn er sie als verloren meldet«, sagte ich.
»Genau. Einen Teil des Geldes gebe ich Mama, aber ich möchte dich auch einladen – sag jetzt nicht nein, es liegt mir viel daran –, und weißt du, wohin? Ins Kranzler.«
Das schickste Café Berlins! Ich zeigte ihm deutlich, wie beeindruckt ich war, weil ich wusste, dass er sich darüber freute.
Wir gaben unsere Mäntel und Mützen an der Garderobe ab. Als Raffi mich in meinem Kleid musterte, sagte er nur: »Gehen wir rein und suchen uns einen Tisch.«
Er klang unsicher, vielleicht war er nervös, weil wir im Kranzler waren, aber ich hatte Angst, dass ihm mein Kleid nicht gefiel. Oder vielleicht war mein Lippenstift verschmiert und ich sah albern aus.
Wir betraten den Gastraum. Raffi trug Karls besten Anzug von vor drei Jahren, der immer noch gut in Schuss, wenn auch ein bisschen abgetragen war. Die Kellnerin sah ihn zweifelnd an, doch sein Grinsen entwaffnete sie. Mich bedachte sie mit einem anerkennenden Blick – und als ich die Augen durch den Raum schweifen ließ, stellte ich fest, dass keine der reichen Damen, die da saßen, besser angezogen war als ich. Aber glücklich machte es mich nicht, denn ich hatte mein bestes Kleid extra für Raffi angezogen, und er hatte nicht gesagt, dass er mich darin hübsch fand.
Kapitel Neun
D ie Kellnerin führte uns an einen Tisch in einer Ecke. Zu unserer einen Seite saß ein Luftwaffenoffizier in Gesellschaft einer blonden jungen Frau, deren roten Strohhut ein neckischer schwarzer Schleier zierte, zur anderen ein Paar mittleren Alters, das laut auf eine stocktaube alte Dame mit einer Nerzbrosche am Revers einredete. Durch die Geräuschkulisse, die sie herstellten, waren wir hier im Café Kranzler sicher vor Mithörern – was allerdings keine Rolle spielen würde, wenn Raffi und ich uns nichts zu sagen wussten.
An der Wand neben dem Tisch hing ein Spiegel, in den ich einen verstohlenen Blick warf – vielleicht war ja mein Lippenstift verschmiert oder haftete an den Zähnen? Aber das war nicht der Fall. Wir gingen zum Tresen, um Kuchen auszusuchen. Es gab hier mehr Gebäcksorten, als ich in der ganzen letzten Zeit gesehen hatte, die Rationierung machte sich eben allmählich bemerkbar, obgleich Katrin gute Kontakte zum Schwarzmarkt unterhielt. Raffi wählte ein Stück Zitronen-Käse-Kuchen, ich einen Mohnkuchen. Sah das gut aus! Wie vor dem Krieg. Und die Lebensmittelmarken, die er dafür hergeben musste, war das allemal wert.
Die kleinen Kuchenzettel nahmen wir mit und übergaben sie unserer freundlichen Kellnerin. Ich bestellte dazu Limonade, Raffi heiße Schokolade.
Wir saßen einander gegenüber. Ich konnte den Blick nicht von all den schönen Dingen wenden – der weißen Damasttischdecke mit dem schimmernden Rosenmuster, der hübschen Porzellantasse und -untertasse, der silbernen Kuchengabel neben dem Teller, der weichen, geschwungenen Falte in der Serviette – und wäre gleichzeitig am liebsten einfach weggelaufen, denn er hatte immer noch kein Wort gesagt.
»Ausgebombt!«, brüllte der Mann am Nachbartisch.
Die alte Dame neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Ich kann dich nicht verstehen.«
»Herr Schilf ist ausgebombt worden«, brüllte der Mann.
»Oh«, sagte die alte Dame laut, »Herr Schilf. Wie geht es ihm denn so?«
»Er ist ausgebombt worden«, sagte die Frau des Mannes ebenso laut. »Er muss sich ein neues Zuhause suchen.«
Plötzlich kreischte die Freundin des Luftwaffenoffiziers die drei an. »Mein Gerhardt setzt Nacht für Nacht sein Leben aufs Spiel, um die Bomber abzuschießen. Dann kommen wir hierher, um ein bisschen Ruhe zu haben, und stattdessen … Lieber Himmel, sprechen Sie doch leiser!«
»Dann bekommt aber meine Mutter nichts mit«, blaffte der Mann.
Die Kellnerin kam mit unseren Getränken und dem Kuchen. Ich probierte meinen: Er war köstlich, innen schwarz und klebrig – aber ich brachte ihn kaum hinunter. Die Limonade tat mir an den Zähnen weh. Ich stellte das Glas ab. Vor Elend wusste ich nicht mehr ein noch aus.
Im Hintergrund erklang
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