Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
Vom Netzwerk:
wir waren nie getroffen worden. Das Schlimmste daran war, wie mich Willi Mingers immer anglotzte. Einmal pflanzte er sich direkt neben mich und ich konnte nicht wegrutschen. Er hatte eine Warze auf dem linken Handrücken, an der er ständig herumfummelte. Und er roch nach Karbolseife.
    Er bewegte den Daumen ruckweise über die grobe Ziegelwand, die den Notausstieg verbarg. »Norbert und ich haben mitgeholfen, die zu bauen«, sagte er, als wäre ich zu der Zeit gerade nicht da gewesen. »So was Schlaues haben die Engländer nicht, da wette ich. Wenn wir hier drin eingeschlossen sind, müssen wir nur die Ziegel wegschlagen und können in den Keller des Nebenhauses schlüpfen und dann in den nächsten, bis hin zum Kurfürstendamm.«
    »Ich weiß«, entgegnete ich. »Karl hat ja auch geholfen.«
    Rasch sagte seine Mutter: »Dein Bruder hat bestimmt nicht so kräftig angepackt wie meine Jungen.«
    Mama warf mir einen warnenden Blick zu, als wollte sie sagen: Provozier sie nicht auch noch. Wieder fummelte Willi an seiner Warze herum. Ich dachte an Raffis Hände mit den gelben Teerflecken darauf.
    Raffi war ziemlich in die Höhe geschossen. Groß und blond, wie er war, entsprach er dem Traumbild eines Nazijünglings. Zwar hatte er von der Schufterei im Gaswerk Muskeln bekommen, war aber trotzdem schlank, und seine Nase wirkte immer noch zu groß für sein Gesicht. Wir trafen uns weiterhin jede zweite Woche. Ich log Mama und Katrin und Paula schon so routiniert an, dass ich es kaum mehr merkte.
    Eines Nachmittags wollte Mama mit mir über mein neues Winterkleid reden. »Ich bin viel zu spät dran damit«, sagte sie. »Du weißt ja, wie viel ich zu tun hatte.«
    Ich nickte. Sie verkaufte immer noch Marionetten und schneiderte nebenher Kleider für ihre Kundinnen, aber zusätzlich nähte sie jetzt auch noch Puppenkleider aus Stoffresten, die gern als Geschenk für die evakuierten kleinen Mädchen gekauft wurden.
    »Du bekommst es rechtzeitig vor Weihnachten«, sagte sie. »Was hältst du von einem runden Kragen und darunter gesmockt? Das wäre doch niedlich, finde ich.«
    Sie hatte diesen verträumten Schneiderinnenblick – das süße Kleinmädchenkleid war vor ihrem inneren Auge bereits fertig – aber ich wusste genau, was ich wollte, ich hatte es nämlich in einem der Modemagazine bei Paula zu Hause gesehen.
    »Mama«, sagte ich, »kann ich ein tailliertes Kleid haben, mit Abnähern und einem kleinen V-Ausschnitt?«
    »Das ist doch viel zu elegant für dich«, wandte sie sofort ein.
    »Paula trägt aber solche Kleider.«
    Mama runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was sich ihre Mutter dabei denkt, dieses Mädchen wird noch eine richtige verwöhnte Madame …«
    Da schrie ich sie an: »Ich bin vierzehn, und du willst mich immer noch wie eine Puppe anziehen! Ich wünschte, ich könnte mir meine Kleider selbst kaufen!«
    Sie ging in die Luft. Das war ja klar, immerhin hatte ich ihr Können in Frage gestellt. Aber sie hatte meine allerbeste Freundin beleidigt, wie konnte sie nur? Dabei wusste niemand besser als sie, wie wichtig Freunde waren.
    »Also«, sagte sie kühl, »dein eigenes Geld könntest du gern für Sachen verschwenden, die nicht halb so hochwertig sind wie die Kleider, die ich dir nähe, aber du verdienst ja nichts, oder? Und bilde dir bloß nicht ein, dass ich dich von der Schule abgehen lasse. Du brauchst eine Ausbildung.«
    »Ja«, blaffte ich zurück, »es ist ungeheuer wichtig, dass ich mich mit Nazipropaganda vollstopfen lasse.«
    Ich rannte in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Ich dachte, sie würde mir nachkommen, aber das tat sie nicht. Lange blieb es still, dann hörte ich, wie sie die Wohnung verließ.
    Ich ging zu Katrin in die Küche.
    »Wo wollte Mama hin?«, fragte ich sie.
    »Nach Moabit«, sagte Katrin. »Ich glaube, sie möchte sich mit Frau Jakobi über dich unterhalten.«
    Es war bereits Verdunklungszeit und Mama war da draußen im Finstern unterwegs. Ich stellte mir vor, wie ihr ein Mörder auflauerte. Wenn ihr etwas Schlimmes passierte, wäre es meine Schuld, schließlich hatte ich sie aus dem Haus getrieben.
    Zwei Stunden lang war ich in Sorge, dann kam Mama wohlbehalten nach Hause. Ich lief ihr an die Tür entgegen und wir fingen beide gleichzeitig an zu reden.
    »Mama, es tut mit leid, aber …«
    Und Mama: »Das mit deinem Kleid – tja, du wirst eben allmählich erwachsen. Hör mal, ich habe ein wenig Stoff beiseitegelegt – mit Kaschmiranteil …«
    Ich war Tante

Weitere Kostenlose Bücher