Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
Vom Netzwerk:
anzuknipsen. Hoffentlich sah man das Licht bei Tag nicht, dann konnte er wenigstens lesen.
    Ich stellte mir vor, welche Geräusche wohl von außen in sein Kabuff drangen; Janke, der mit seinem langen Besen das Pflaster im Hof kehrte und dazu Melodien pfiff, die kein Mensch erkannte; das laute Scheppern der großen Abfalltonnendeckel und der dumpfe Aufschlag, wenn Müll in die Tonnen fiel – allerdings gab es davon nicht mehr viel, weil das meiste als Kriegsbeitrag wiederverwertet wurde. Auch das Gezwitscher der Spatzen hörte Raffi wahrscheinlich; Muffi, die hinausgelassen wurde und herumlief, Mama, die sie wieder ins Haus rief. Aber dann setzten in meinem Kopf andere Geräusche ein: das große Auto, das vorfuhr, das Türenschlagen, die Stiefeltritte auf der Treppe, die Stimmen. »Aufmachen! Gestapo!« Es wurde mir eng in der Kehle und mein Magen krampfte sich zusammen. Und wenn sie nun draußen herumschnüffelten und entdeckten, dass es unter der Treppe einen Raum gab?
    Mama würden sie hinrichten, weil sie einen Juden versteckt hatte. Mich wahrscheinlich auch. Und ich musste die ganze Zeit an Tante Edith denken. Ich konnte immer noch ihre Hand spüren, die meine drückte, ihre Finger, die ich gestreichelt hatte. Rau waren sie gewesen, von der Arbeit in Onkel Hartmuts Fabrik. Und wieder einmal dachte ich: Wenn ich doch bloß diese erste Tram nicht verpasst hätte. In Raffis Kabuff wäre auch noch Platz für sie gewesen. Dann hätten sie einander zur Gesellschaft gehabt. Plötzlich war ich überzeugt, dass ich an allem schuld war, und ich begriff, warum Raffi mich nicht mehr liebte. Ich hatte es nicht verdient, von irgendwem geliebt zu werden.
    Verzweifelt dachte ich: Vielleicht stirbt sie ja nicht im Zug. Bitte mach, dass sie irgendwie entkommt und jemanden findet, der sie versteckt. Ich versuchte ihr in Gedanken meine Liebe zu schicken, damit sie ihr, wo auch immer sie war, Kraft gab.
    »Die alten Germanen waren tapfere Krieger«, sagte Fräulein Emmerich. »Sie fürchteten nichts und niemanden.«
    Die hatten damals auch keine Gestapo , kritzelte Paula in ihr Schmierheft.
    Ich brachte ein Grinsen zustande, doch gleich darauf hielt das Leben eine kleine Gemeinheit für mich parat. Irgendein Mann ging am Fenster des Klassenzimmers vorbei und sang mit heiserer Stimme:
    »Die Erde versinkt, und wir zwei sind allein,
    In dem siebenten Himmel der Liebe …«
    Das Lied aus dem Café Kranzler. Ganz unvermittelt rannen mir Tränen über die Wangen und plumpsten auf das holzige Papier meines Schmierhefts. Die Emmerich stürzte sich auf mich.
    »Friedemann, was soll dieses Benehmen, schämst du dich nicht?«
    Die grobknochige Frau starrte mich über den Kneifer hinweg, der auf ihrer spitzen Nase saß, mit ihren Fischaugen an.
    Paula ließ ihr Schmierheft geschickt unter dem Schulbuch verschwinden und sagte: »Fräulein Emmerich, wissen Sie denn nicht, dass Jennys Bruder gefallen ist …?«
    »Und?«, wollte die Emmerich wissen. »Die Frauen der alten Germanen haben um ihre gefallenen Brüder auch nicht geweint, Friedemann. Sie waren stolz, dass sie nach Walhall kamen und mit Wotan Met trinken durften.«
    Ich putzte mir die Nase und riss mich zusammen. Aber die Vorstellung, dass Karl in Walhall saß, fand ich schrecklich. Statt Met wäre ihm ein Glas Pils viel lieber gewesen, dazu ein Freund zum Fußballspielen und ein paar knifflige technische Probleme, die er lösen konnte. Auch würde er sicher gern Omi wiedersehen, und Onkel Markus. Wenn die Nazis schon im Diesseits das Sagen hatten, sollten sie wenigstens nicht auch noch das Jenseits beherrschen.
    Die Emmerich nahm mein Schmierheft hoch. »Du hast es ganz durchnässt«, rügte sie mich. »Ist dir nicht klar, dass Papier knapp und teuer ist?«
    Ich murmelte eine Entschuldigung.
    »Lass es richtig trocknen«, ordnete sie an. »Dann kannst du es weiter benutzen.«
    Obwohl ich noch ganz mitgenommen vom Weinen war, kam mir ein Gedanke: Papier. Wenn Raffi Gebäude entwerfen könnte, wäre er beschäftigt. Bloß, wo kriege ich Papier für ihn her?
    »Die Frauen der alten Germanen waren sparsam«, dozierte die Emmerich, die immer noch neben mir stand. Sie stank nach Mottenkugeln. Entweder hatte sie die gehortet, oder sie kannte eine geheime Quelle. Mottenkugeln waren nur noch schwer zu bekommen, nicht einmal Katrin konnte welche auftreiben. »Sie spannen ihre Wolle selbst und webten daraus Stoffe für ihre Familien.«
    Briefumschläge, dachte ich, das ist es. Wenn ich sie

Weitere Kostenlose Bücher