Nicht ohne dich
die erste Trambahn am Abend zuvor für mich stehen geblieben.
Mama hatte bereits den Kaffee gemahlen, den wir gleich trinken würden, und ab und an drang ein wenig von dem Duft durch Tante Gretes aufdringliches Parfüm an meine Nase. Meine Tante hatte Apfelstreuselkuchen mit Zimt mitgebracht. Ich roch die echte Butter in den Streuseln, schon bevor ich hineingebissen hatte.
Tante Grete nahm auf dem Sofa Platz und faselte das übliche schreckliche Zeug von Karls »edlem Opfer für das Vaterland«. Mama rang sich zu einer höflichen Erwiderung durch, aber ich hielt lieber den Mund – aus Angst zu sagen, was ich dachte: dass ihr Mann aus dem Krieg, dem Karl zum Opfer gefallen war, Profit schlug.
Tante Grete seufzte. »Armes Kind, es ist schwer für sie.« Dann fuhr sie mit heuchlerischer Stimme versonnen fort: »Es ist mir eine Freude, dich zu sehen, Jenny. Ich vermisse meine kleinen Mädchen so sehr.«
Deine schrecklichen Mädchen, dachte ich, die sich darüber gefreut hätten, dass die Gestapo Tante Edith mitgenommen hat. Kunigunde hätte uns glatt ins Gesicht gelacht.
Aber Tante Grete machte weiter mit der Schöntuerei. Jetzt war Muffi an der Reihe. Sie tätschelte ihr den Kopf und Muffi ließ es geschehen. Tante Grete duldete sie, während sie sich vor Onkel Hartmut immer verkroch. Was er von ihr hielt, wusste sie genau.
»Wenn der weiße Fleck nicht wäre«, bemerkte sie gönnerhaft über unsere Promenadenmischung, »könnte man sie glatt für reinrassig halten.« Dann schlug sie ihre dicklichen Beine in den glänzenden Seidenstrümpfen übereinander, um sie gleich wieder zu lösen. Mit einem Blick auf ihre Fingernägel sagte sie: »Sylvia, ich weiß ja nicht, wie viel Ware du noch auf Lager hast …«
»Wir kommen zurecht«, erklärte Mama mit gereizter Miene. »Wir haben Dietrichs Sold und ich habe meine Stammkundinnen.«
»Das darfst du jetzt nicht falsch verstehen, Sylvia«, fuhr Tante Grete fort und wusste scheinbar nicht, wie sie weiterreden sollte. »Es ist bloß – in erster Linie bin ich gekommen, weil meine Schneiderin ihre Werkstatt geschlossen hat, damit ihre Näherinnen kriegswichtige Arbeit verrichten können … in den heutigen Zeiten muss sie selbstverständlich für das Vaterland tun, was sie kann … und ich habe mich gefragt, ob … du hast doch so einen guten Geschmack und bist eine hervorragende Näherin …«
So war das also. Mit dem Essen wollte sie uns bestechen.
Mama betrachtete Tante Grete nun mit einem ganz neuen Blick. Ich kannte diesen Blick, so sah sie mich immer an, wenn sie überlegte, welches Kleid oder welchen Mantel sie mir nähen sollte. Ich wusste, was sie dachte. Bloß kein Lila. Es betonte all die kleinen roten Äderchen auf Tante Gretes Wangen und machte sie blass. Aber würde Mama sie davon überzeugen können? Vielleicht fragte sich Mama das auch, denn sie runzelte die Stirn.
»Wir könnten dir den Wagen schicken, wenn du wegen der Anproben kommst«, fuhr Tante Grete fort. »Und natürlich würde ich dich gut entlohnen …«
Sie hielt inne. Ihr Blick war ängstlich und verlegen.
Ich sah Mama an und dachte: Tu es doch! Das würde bedeuten, dass wir regelmäßig Essenspakete und Geld bekamen. Luxus, den wir uns mit Raffi teilen konnten. Und wir brauchten die Hansens auf unserer Seite. Unsere Augen trafen sich. Ich hoffte, ihre Gedanken gingen in die gleiche Richtung.
Doch sie erklärte: »Ich habe schon genug zu tun, Grete, meine Stammkundinnen verlassen sich auf mich.«
»Aber Sylvia«, flehte Tante Grete, »es würde auch für dich noch Stoff abfallen.«
Für sie war Stoff natürlich nicht rationiert, wo Onkel Hartmut doch damit handelte.
Mama schwieg und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne ihres Stuhls. Tante Grete heftete den Blick auf sie wie Muffi, wenn sie auf ihr Abendessen wartete. Ich stellte mir vor, wie sie unter ihrem hässlichen lila Kostüm mit dem Schwanz wedelte. Fast wäre ich in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
Schließlich sagte Mama: »Also schön, Grete. Ich helfe dir aus.«
Tante Grete seufzte, schlug wieder die Beine übereinander, lehnte sich zurück und trank ihren Kaffee in einem einzigen Schluck aus.
»Danke«, sagte sie.
Genau in dem Moment, als meine Mutter Tante Grete an der Tür verabschiedete, kam Frau Mingers aus ihrer Wohnung. Ich dachte: Ob sie wohl auf der Lauer gelegen hat? Sie starrte Tante Grete so durchdringend an, dass Mama sie schließlich vorstellte.
»Heil Hitler, freut mich, Sie kennen zu
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