Nicht ohne dich
ganz ausklappe, ergibt die Innenseite eine Menge leeres Papier. Und dann bleiben noch die Vorsatzblätter in den Büchern, manche sind zumindest auf einer Seite unbedruckt. Über Papier nachzudenken half mir, die anderen, schrecklichen Gedanken zu verscheuchen.
Noch etwas gab es zu erledigen: Ich erzählte Paula, dass Klaus-Heinrichs Mutter mit ihm zu seiner kranken Großmutter aufs Land gefahren war. Nach Baden, sagte ich – denn das lag ganz weit weg von Berlin.
»Wirst du ihm schreiben?«, fragte Paula mit besorgter Miene. »Er wird dir bestimmt fehlen.«
»Klar schreibe ich ihm«, sagte ich, »aber das ist ja nicht dasselbe.«
Mama hielt es auch für eine gute Idee, Raffi mit Papier zu versorgen, und so verbrachte ich eine halbe Stunde damit, alte Umschläge auseinanderzunehmen und unsere Bücher zu zerlegen. Als ich an diesem Abend zu ihm hinunterging, hatte ich eine ganze Menge Papier in der Tasche.
»Was ist das?«, wollte er wissen.
»Für dich, zum Zeichnen«, erklärte ich.
Er machte keine Anstalten, es zu nehmen. »Das brauche ich nicht.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich sagte: »Bist du böse auf mich, weil ich Tante Edith nicht gerettet habe, Raffi? Meinst du, ich hätte die frühere Tram erwischen müssen?«
»Nein«, entgegnete er scharf. »Mit dir hat das überhaupt nichts zu tun, Jenny.«
Wenn er mir ein Messer in den Bauch gerammt hätte, der Schmerz hätte kaum größer sein können. Ich schluckte schwer und sagte: »Ich habe auch ein paar Stifte für dich gespitzt, schau. Ich lege das alles hierhin, Raffi. Ob du es benutzt oder nicht, kannst du selbst entscheiden.«
Mit besorgtem Blick erklärte Mama: »Die Sache ist die, Raffi wollte unbedingt bei seinen Eltern bleiben und ihnen beistehen – und jetzt kann er nichts mehr für sie tun. Das ist es, was ihn quält.«
Sie gab mir einen Teller Eintopf, den sie aus Tante Gretes Kartoffeln zubereitet hatte. »Und wie sehr er die Arbeit im Gaswerk auch gehasst hat, dort hatte er wenigstens etwas zu tun. Jetzt sitzt er tatenlos herum und hat alle Zeit der Welt zum Grübeln …«
»Mama, wenn du versuchst, mich wegen ihm und mir zu trösten, dann lass es. Ich will nicht darüber reden.«
Ich hätte nicht gedacht, dass sie es damit gut sein lassen würde, aber sie stand auf und ging zum Küchenschrank.
»Papa hat geschrieben.«
»Hat er – hat er es schon gewusst? Von wann ist der Brief?«, fragte ich.
Sie schüttelte schnell den Kopf und reichte ihn mir.
Meine Lieben, hatte Papa geschrieben. Ich denke Tag und Nacht an Euch. Bedingungen gut hier. Bin bei guter Gesundheit. Bitte passt immer auf Euch auf. Papa, Dietrich.
Ich fragte Mama: »Er wäre doch einverstanden damit, was wir tun, oder?«
»Ja«, erwiderte sie. »Natürlich.« Und dann: »Wann wird er es wohl erfahren? Er wird es ganz allein verkraften müssen, Jenny …«
Und dann fielen wir einander schluchzend in die Arme. Wir weinten wegen Papa, wegen Karl, wegen Tante Edith. Wegen Raffi. Und Mama wahrscheinlich auch meinetwegen, aber das war mir damals nicht bewusst.
Am nächsten Abend lagen Papier und Stifte immer noch unbenutzt in der Ecke, aber Raffi gab zu, dass er gelesen hatte.
Kurz bevor ich ging, sagte er: »Irgendeine Frau hat im Hof mit Janke gestritten. Sie hat zu ihm gesagt, es sei eine Schande, wie es hier überall aussehe, und er fing an sie anzubrüllen, wenn die Tommys ihm nicht bei Ypern das halbe Bein weggeschossen hätten, könnte er gegen die Russen kämpfen, anstatt sich an der Heimatfront mit alten Drachen herumschlagen zu müssen. Daraufhin schrie sie zurück, ihr Mann und ihr Sohn seien an der russischen Front, woraufhin er einfach wegging und sie stehen ließ.«
»Das waren Janke und Frau Mingers«, sagte ich. »Sie können einander nicht ausstehen.«
»Die Frau, die in unserer Wohnung wohnt?«, fragte Raffi und seine Miene wurde abweisend. Jetzt würde er kein Wort mehr sagen.
Als ich die Hintertreppe hinaufging, versuchte ich mir einzureden, es sei mir egal.
Katrin hatte uns Karotten gebracht, und der Eintopf, den wir daraus mit Kartoffeln, ein wenig von Tante Gretes Schinken und ein paar Zwiebeln kochten, war für Kriegszeiten köstlich. Wir spülten gerade ab, als es an der Tür klingelte. Ich ging, um aufzumachen, die bellende Muffi an meiner Seite.
Es war der Gestapobeamte von neulich Abend mit seinen beiden Begleitern.
Mir wurde fast schlecht vor Angst, als ich sie da stehen sah, aber gleichzeitig wurde ich ganz kalt und
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