Nicht ohne dich
lernen«, sagte sie, während sie mit den Augen Tante Gretes Persianermantel verschlang. Ihr eigener Mantel war aus billigem Synthetikstoff, wie man sie in dieser Saison gegen Bezugsschein bekam, und außerdem hatte sie ihn falsch geknöpft, sodass eine Seite länger war als die andere. Sie wandte sich zur Tür, als wollte sie zurück in ihre Wohnung, doch dann, das konnte ich sehen, fiel ihr wieder ein, dass sie ja eigentlich ausgehen sollte. Nach einem kurzen Zögern machte sie sich auf den Weg die Treppe hinunter. Sie war doch tatsächlich nur an der Tür erschienen, um Tante Grete zu sehen. Wieder spürte ich verrücktes Gelächter in mir aufsteigen und biss mir von innen auf die Wangen.
Um den Hals trug sie das Mutterkreuz. Als sie davonzog, blieb Tante Gretes Blick darauf ruhen, und sie seufzte. »Vier Kinder hat sie zur Welt gebracht«, sagte sie. »Wenn es mir nur gesundheitlich besser gegangen wäre …«
Frau Mingers Nacken straffte sich stolz. Sie hatte es gehört. Jetzt freute sie sich wie ein Schneekönig, weil die feine Dame im Pelzmantel sie um die Gnome beneidete, die sie für das Vaterland produziert hatte.
Wieder in unserer Wohnung, sagte ich zu Mama: »Was ist mit dem Pelzkragen von Frau Besenstiel passiert?«
»Sie hat ihn für die Truppen in Russland gespendet«, erklärte Mama.
»Ich wette, den trägt jetzt irgendein Nazibonzenweib. Mama, ich dachte schon, du würdest Tante Grete eine Abfuhr erteilen.«
»Lieber Himmel, nein«, entgegnete Mama. »Ich habe es nur hinausgezögert, um sie ein bisschen zu quälen. Aber, Jenny, es muss in Berlin doch noch andere Schneider geben. Sie hätte nicht zu mir kommen müssen.«
»Glaubst du, sie haben das mit unserer Verwandtschaft zu General Montgomery geschluckt?«
»Vielleicht«, sagte Mama. »Egal, jedenfalls haben sie dich mit einem Juden gesehen. Vielleicht ist Hartmut sogar zu Ohren gekommen, dass wir gestern Abend Besuch hatten. Durch seine Kontakte.«
Jetzt musste ich doch lachen, aber es war ein bitteres Lachen, das mir in der Kehle wehtat. »Also weil wir bei den Nazis so einen schlechten Ruf haben, kann er auf uns setzen, falls die Tommys gewinnen? Und ich habe Onkel Hartmuts Namen benutzt, um die Gestapo zu beeindrucken.« Plötzlich wäre ich fast in Tränen ausgebrochen, aber ich unterdrückte das Schluchzen.
Mama lächelte bitter. »Er hält uns jetzt den Rücken frei und hofft, dass wir für ihn das Gleiche tun, wenn die Nazis den Krieg verlieren. Würden wir das wirklich, frage ich mich.«
Später gab ich zu bedenken: »Und wenn es nun einen Luftangriff gibt?«
»Raffi müsste bleiben, wo er ist«, erwiderte Mama. »Ich hoffe bloß, unser Haus wird nicht getroffen. Wenn man seine Leiche fände, käme alles heraus.«
»Wenn er sterben muss«, sagte ich darauf, »will ich auch nicht mehr leben.«
»Nein, Jenny!«, sagte Mama und packte mich bei der Schulter. »Wir dürfen nur ans Überleben denken. Hör mal, wie können wir es einrichten, dass du heute Abend in die Werkstatt gehst, ohne Verdacht zu erregen? Und auch an all den kommenden Abenden.«
»Ich muss doch mit Muffi Gassi gehen, oder?«, meinte ich.
»Gute Idee. Dann wissen wir auch gleich, ob im Hof die Luft rein ist. Wir machen es also genauso wie heute Morgen, als ich runtergegangen bin. Wenn niemand da ist, kommst du noch mal rauf und holst das Essen.«
Ich nickte.
»Ich habe einen Eimer mit Wasser in der Werkstatt deponiert. Eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme wegen der Luftangriffe, falls jemand fragt. In Wirklichkeit aber, damit du die Toilette spülen kannst, wenn du den Nachttopf hineingeleert hast, und um anschließend den Topf auszuwaschen. Morgens kann ich die Wasserspülung benutzen, aber das darfst du abends nicht tun. Könnte Verdacht erregen.«
Ich wusste nicht, wie ich es schaffen sollte, Raffis Topf auszuleeren, aber ich sagte mir, das gehörte dazu, wenn ich für ihn sorgen wollte. Dann wiederholte ich es mir noch einmal, weil es beim ersten Mal nicht richtig eingesickert war.
Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, ihn zu sehen. Ich sah ständig auf die Uhr und ärgerte mich, dass die Zeit so langsam verging.
Vor Ungeduld war mir ganz eng in der Brust, während Muffi im Hof herumschnüffelte, um sich eine Stelle zum Pinkeln zu suchen. Gestapoleute fand sie keine, also ging ich wieder hinauf, um das große Einmachglas voll warmer Kartoffelsuppe und die Wasserflasche zu holen. Das unter meiner Jacke versteckte Einmachglas mit dem linken Ellbogen
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