Nicht ohne dich
aus dem Leib gerissen.
Ich riss mich zusammen. »Raffi, Mama will, dass ich mit dir noch mal die Regeln durchgehe.«
Er sah mich an, als wüsste er nicht recht, was ich meinte, doch dann sagte er sie mir auf.
»Ich muss tagsüber in Karls Zimmer bleiben. Ich kann Licht anhaben, weil ihr dort nie die Verdunklungsrollos hochzieht.«
Frau Mingers hatte Mama gefragt, warum Karls Fenster immer verdunkelt blieb, und Mama war in Tränen ausgebrochen und hatte geantwortet, sie wolle nicht, dass die Habseligkeiten ihres toten Sohnes dem Tageslicht preisgegeben wären. Das hatte die Besenstiel zum Schweigen gebracht.
»Ich kann die Toilette benutzen, darf aber nicht spülen oder Wasser laufen lassen. Ich darf in der Wohnung keinen Lärm machen, wenn ihr nicht da seid. Keinerlei Geräusch. Immerhin werde ich mich im Zimmer bewegen können. Solange ich mich ruhig verhalte. Herauskommen kann ich nur am Abend, wenn die Verdunklung runtergezogen ist. Und ich darf nicht laut sprechen. Niemals.«
»Besser als hier unten ist es allemal«, sagte ich.
Plötzlich wurde er wütend. »Ich werde immer noch eingesperrt sein, bloß in einem größeren Käfig«, zischte er.
Ich schaffte es gerade noch, nicht zurückzublaffen, und sagte bloß: »Ich weiß, dass es hart für dich ist, Raffi – aber hör mal, in Karls Zimmer sind Hanteln. Mit denen kannst du arbeiten, ein bisschen trainieren …«
Er gab sich einen Ruck. »Du musst mich für ein undankbares Schwein halten. Bin ich nicht, bloß …«
»Schon gut«, unterbrach ich ihn. Ich befürchtete, er würde anfangen zu erklären, warum er mich nicht mehr liebte. Das hätte ich nicht ertragen. »Komm, gehen wir rauf. Mama hat das Abendessen fertig«, forderte ich ihn auf.
Ich löschte das Licht und öffnete die Hintertür. Der Weg über den dunklen Hof zum Eingang der Küchentreppe schien kilometerweit. Ich verfluchte die Leute, die das Haus gebaut hatten. Es war ein Glück, dass wir als einziges Stockwerk eine Hintertreppe besaßen, aber warum führte sie nicht direkt in die Werkstatt?
Das Abendessen fiel karg aus. Tante Gretes Leckereien waren aufgezehrt. Katrin sollte uns am nächsten Tag ein neues Paket vom Schwarzmarkt bringen, aber auch sie konnte nicht mehr so viel auftreiben wie früher. Es gab einen Eintopf aus einem Stückchen Steckrübe, einer klein geschnittenen Karotte, schrumpeligen Kartoffeln, ein paar Gramm Schweinefleisch und ein paar grünen Bohnen.
Ich konnte mein Essen sowieso nicht genießen. Jetzt, da Raffi mir gegenübersaß, musste ich an all das denken, was endgültig vorbei war, und eine verhasste Stimme in meinem Kopf jammerte unaufhörlich: Warum, Raffi, warum? Als der Eintopf aufgegessen war, kramte Raffi irgendwelche Bröckchen aus seiner Tasche. Es war die ganze Schokolade, die wir ihm in den letzten vier Wochen gebracht hatten.
»Die teilen wir uns jetzt«, sagte er.
»Die war doch für dich«, entgegnete Mama rasch.
»Was denkt ihr eigentlich von mir?«, flüsterte er stirnrunzelnd. »Tante Sylvia, ich möchte eigentlich keine Schokolade, aber wenn ihr welche esst, nehme ich auch davon. Ihr habt sie nötig.«
Für mich war es die erste Schokolade seit über einem Jahr. Als ich sie in den Mund steckte, schmeckte sie zu süß, eklig süß. Trotzdem aß ich all die Stückchen auf, die Raffi mir gab, weil ich nicht unhöflich sein wollte.
Nach dem Abendessen bat er uns um ein wenig Stahlwolle.
»Wozu?«, fragte Mama.
»Ich möchte den Ofen putzen«, sagte er.
»Das brauchst du doch nicht …«, begann Mama.
Fast verzweifelt entgegnete er: »Ich muss aber etwas zu tun haben.«
Also gab Mama ihm das Stahlwollknäuel, und während sie abwusch und ich abtrocknete, scheuerte Raffi den Ofen.
Beim Einräumen des Geschirrs sagte ich zu ihm: »Das ist eine scheußliche Arbeit.«
»Es ist wenigstens etwas zu tun«, war alles, was er erwiderte, während er weiterschrubbte. Ich sah, wie seine Arm- und Rückenmuskeln arbeiteten und war plötzlich wütend auf ihn. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien und etwas nach ihm geworfen. Stattdessen rannte ich aus der Küche in mein Zimmer und warf die Tür hinter mir zu.
Kapitel Vierzehn
A ls ich aufwachte, ließ ich die Augen geschlossen. Ich wollte sie nicht öffnen, wollte weder die grünen Leuchtzeiger meines Weckers noch das Ziffernblatt oder die kleinen Reflexe auf dem Uhrenglas sehen – und mehr war in meinem verdunkelten Schlafzimmer nicht zu erkennen. Ich wollte gar nicht wissen, dass mein
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