Nicht ohne dich
Paketen sowie ein paar Tropfen Dosenmilch. Es war wirklich hohe Kunst, nur zwei Kaffeebohnen zu mahlen.
»Ich muss einkaufen gehen«, sagte ich so munter ich konnte.
»Ja, bitte«, stimmte Mama zu.
Das Geschirr ließen wir stehen, Raffi konnte es am Abend spülen. Er tat es so gründlich, dass er dabei das Muster vom Porzellan kratzte, aber Mama und ich machten ihn nicht darauf aufmerksam.
Als ich meine Straßenkleidung anzog, steckte Raffi den Kopf durch die Tür und flüsterte: »Jenny, könntest du nicht vielleicht versuchen, ein bisschen Papier für mich aufzutreiben? Bitte.«
Ich hasste es, wenn er höflich zu mir war wie zu einer Fremden. Außerdem war es eine Aufgabe mehr.
Streng rief ich mich zur Ordnung. Ich musste doch froh sein, wenn er nach Papier verlangte. Das bedeutete vielleicht, dass er wieder Gebäude entwarf – neben der abendlichen Hausarbeit und der Buchhaltung, die er am Tag erledigte. Außerdem trainierte er mit immer schwereren Gewichten und holte aus Karls Büchern etwas Schulbildung nach und schrubbte die Rosen vom Porzellan. Er hatte so viel ungenutzte Energie, dass er sich mit möglichst vielen Dingen beschäftigen musste.
»Ich werd’s versuchen«, versprach ich.
Er sagte: »Danke.« In diesem Augenblick hätte ich ihn schrecklich gern berührt, doch er machte die Tür zu – vor meiner Nase, jedenfalls empfand ich es so. Hilflose Wut stieg in mir auf. Ich schlang die Arme um mich, drückte mich selbst und spürte, wie sich mein Gesicht zum Weinen verzog wie bei einem Baby. Aber ich wimmerte lautlos. Ich hätte es nicht ertragen, wenn Raffi gemerkt hätte, dass er mich zum Weinen gebracht hatte.
Die erste Warteschlange, beim Gemüsehändler, bestand nur aus zwölf Leuten, aber es wurde auch gemunkelt, es gebe nichts außer Steck- und Kohlrüben. Ich hoffte auf etwas Besseres, weil ich die Zigarettenmarken bei mir hatte, die Mama und ich nicht brauchten. Einmal hatte ich mit Paula das Rauchen probiert, aber es hatte mir nicht geschmeckt, und jetzt war das ein Glück – obwohl ich mir, als ich die junge Frau mit dem roten Lippenstift direkt vor mir sah, wünschte, ich würde auch rauchen. Die Art, wie sie den Rauch ausstieß, vermittelte den Eindruck, sie wisse Bescheid und könne für sich sorgen. Wenn der Mann, den sie liebte, aufhörte sie zu lieben, dachte ich, dann wäre sie nicht so dumm wie ich, sie würde sich einfach einen anderen suchen.
Sie fragte eine alte Dame mit verbeultem Hut: »Meinen Sie, die Tommys werden heute Nacht wieder Bomben werfen?«
»Ich hoffe nicht.«
Eine andere Frau warf ein: »Sie arbeiten an einer Geheimwaffe, habe ich gehört. Irgendeine riesige Kanone, die Raketen bis nach London schießen und die ganze Stadt ausradieren kann.«
Die Großmutter trat von einem Fuß auf den anderen. »Oh, gut«, sagte sie mit matter Stimme. »Dann werden all unsere Probleme ein Ende haben.«
Sie glaubte nicht daran. Ich auch nicht, aber manchmal hatte ich Albträume, in denen die Nazis alle anderen besiegten.
Als ich an der Spitze der Schlange angelangt war, hob Herr Dillmann meine Tasche auf seine Seite des Tresens hinüber, steckte die Rüben hinein und legte ein paar Kartoffeln dazu. Sie waren verschrumpelt und keimten schon, aber wenn man sie in Wasser einweichte, rundeten sie sich wieder. Außerdem gab er mir eine Menge Karotten und drei Zwiebeln. Ich bedankte mich und schob ihm zusammen mit dem Geld und den normalen Marken die Zigarettenmarken hin.
Herrn Gross, den Schlachter, konnten wir nicht mit Zigarettenmarken abspeisen, aber seit Tante Grete Mama mit Stoff in Hülle und Fülle versorgte, hatten wir bei ihm einen Stein im Brett.
»Seide«, flüsterte ich ihm zu.
»Wie viel?«, fragte er.
»Zwei Meter.« Dafür bekamen wir Extrafleisch für einen ganzen Monat. Und zwar gutes Fleisch. Ich schob meine Einkaufstasche über den Tresen, und er holte die Seide heraus und packte mir ein zusätzliches Pfund Rindfleisch sowie einen Knochen ein. Durch das Einwickelpapier hindurch schimmerte das Fleisch dunkel, und ich bekam beim bloßen Anblick schon Hunger, obwohl es roh war. Er flüsterte mir zu: »Nächste Woche habe ich Hühnchen. Ich leg dir eins auf die Seite.«
Beim Krämer besorgte ich Brot und Nudeln. Mir taten schon die Arme weh, weil die Taschen so schwer waren, und kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach nach Hause zu gehen. Ich konnte Raffi sagen, dass ich zu müde gewesen war, sein Papier zu besorgen. Das geschähe ihm ganz recht.
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