Nicht ohne dich
das? Frau Friedemann, bei Ihnen ist jemand eingebrochen!«
Mama legte die Jacke rasch beiseite. Wir mussten uns beide keine Mühe geben, um erschrocken auszusehen. Wir waren außer uns vor Schreck – und Frau Tillmann sagte: »Ich hole meinen Mann. Er kann mit Ihnen raufgehen und nachsehen. Oder vielleicht rufen Sie besser gleich die Polizei …«
Ich stand wie angewurzelt da, starr vor Panik. Dann öffnete ich den Mund und brachte sogar ein Lächeln zustande, als ich entgegnete: »Ist schon in Ordnung, ich weiß, was das war. Ich habe den großen Atlas aufgestellt, damit mein Fenster offen bleibt.«
Ich konnte selbst kaum glauben, dass mir das so schnell eingefallen war. Mama meinte: »Ach ja!« Sie nickte und sah ehrlich erleichtert aus.
»Der Fensterriegel ist kaputt«, erklärte ich Frau Tillmann. »Und wahrscheinlich kam eine Windbö und hat den Atlas runtergeweht.«
»Frischluftfanatiker«, sagte Frau Tillmann kopfschüttelnd und lachte.
Ich wusste, dass ich mitlachen musste. Dann ging ich mit Muffi die Treppe hinauf, erleichtert, dort wegzukommen, denn mein Mund war plötzlich ganz trocken und das Reden fiel mir schwer. Ich zitterte. Ob uns Frau Tillmann das wohl wirklich abgekauft hatte? Und was, falls nicht? Selbst wenn sie Raffi nichts Böses wollte, selbst wenn sie nicht vorhatte, uns zu denunzieren, so erwähnte sie doch vielleicht etwas ihrem Mann gegenüber, und das wären zwei Mitwisser mehr, was das Risiko beträchtlich erhöhte. Das konnte richtig gefährlich werden. Ich dachte: Nein, sie schien uns zu glauben. Erst dann kam ich auf den Gedanken, dass sie möglicherweise nur so getan hatte, um uns in Sicherheit zu wiegen, während sie uns denunzierte.
Ausgeschlossen, sagte ich mir. Das würde sie nicht tun. Schließlich war sie nach der Kristallnacht gekommen, um den Jakobis aufräumen zu helfen. Dann dachte ich: Was hat sich Raffi eigentlich dabei gedacht? Was? Warum hat er nicht aufgepasst?
Kaum hatte ich die Küche betreten, hörte ich ihn aus seinem Zimmer in den Flur kommen. Muffi lief hinaus, um ihn zu begrüßen. Ich nicht. Ich trug den Wasserkessel zum Spülbecken und ließ Wasser einlaufen. Ich wollte ihn nicht sehen, ich hatte Angst, ich könnte ihn wieder anschreien, und wenn ich das tat, würde Frau Tillmann garantiert die Polizei rufen.
Doch dann hörte ich ihn leise »Jenny« rufen. Ich dachte: Ich muss nicht rausgehen zu ihm. Ich kann hierbleiben. Doch am Ende brachte ich es nicht fertig, ihn zu ignorieren. Ich stellte den Kessel auf das Abtropfbrett und trat hinaus in den Flur. Um die Beherrschung nicht zu verlieren, biss ich mir auf die Unterlippe.
Sein Gesicht war blass und angespannt. »War jemand in der Werkstatt?«
»Frau Tillmann«, entgegnete ich.
Raffi trat einen Schritt auf mich zu und hielt dann inne. »Tut mir leid. Ich habe versucht, ein zu schweres Gewicht zu heben, und es ist mir runtergefallen.«
Sprachlos starrte ich ihn an. Ich hatte solche Angst ausgestanden, dass mein Mund sich immer noch anfühlte, als hätte jemand ihn mit Watte ausgetupft.
»Von jetzt an passe ich besser auf«, sagte er.
Ich nickte bloß und ging zurück in die Küche, stellte den Kessel auf den Herd und entzündete die Gasflamme, die so laut zischte, dass ich am liebsten »pssst« gesagt hätte. Ich hörte, wie Raffis Zimmertür sich schloss – sehr leise, doch selbst das schien mir noch zu laut. Ich dachte daran, wie er auf mich zugekommen war, als wollte er mich endlich doch in die Arme schließen. Aber er hatte es nicht getan.
Ich nahm einen ganzen Teelöffel echte Kaffeebohnen und mahlte sie, um sie mit dem Getreidekaffee zu mischen. Verschwenderisch – aber das war mir egal. Den Kaffee wollte ich mir mit Mama teilen. Nachdem ich eine Tasse getrunken hatte, fühlte ich mich ein bisschen besser und goss sogar Raffi etwas ein. Ich öffnete seine Tür gerade weit genug, um die Tasse so abzustellen, dass er sie sah. Dann verzog ich mich rasch.
Als ich hinunterkam, war Frau Tillmann gegangen. Ich war sehr froh darüber.
»Kaffee?«, fragte Mama. »Danke, Jenny.« Sie reckte sich empor und küsste mich. Dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf und lachte. »Den habe ich mir eigentlich gar nicht verdient. Ich bin eine Idiotin, sieh nur, was ich mit diesem Ärmel angestellt habe.« Sie hielt ihn in die Höhe, um es mir zu zeigen. Ich sah mir das Schulterpolster und den Ärmel an, die sie auf der falschen Seite eingenäht hatte. Das wieder aufzutrennen, würde ewig dauern,
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