Nicht ohne dich
neuer Tag schon bald beginnen würde. Lieber malte ich mir aus, ich könnte hören, wie Karl im Nebenzimmer aufstand, wie er sich für seine Vorlesungen an der Universität fertig machte, wo er Ingenieurswesen studierte. Ich stellte mir vor, Katrin sei dabei, mein Frühstück zuzubereiten, und später in der Schule wären die Lehrer keine Nazis, weil es gar keine Nazis gäbe und damit auch keinen Krieg. Nach der Schule würde ich Raffi sehen können; wir wären verliebt und alle würden sich darüber freuen, ganz besonders Tante Edith. Sie würde den Kopf schütteln, wenn sie uns beim Küssen erwischte, dabei aber lächeln.
Als ich ans Küssen dachte, fiel mir allerdings ein, dass Raffi mich gar nicht mehr küssen wollte, und meine Traumwelt fiel in sich zusammen. Wie die Sandburg, die wir als kleine Kinder in den Ferien an der Nordsee zusammen gebaut hatten: Wir hatten die Mauern hoch geschichtet und allen verkündet: »Die halten der Flut stand, unsere Burg ist uneinnehmbar.« Aber schon die erste Welle verwandelte die Mauern in Sandhaufen, die zweite ebnete sie vollkommen ein, und ich weinte, und Raffi trat nach den Wellen, aber dem Meer war das egal.
Ich öffnete die Augen und blickte auf den Wecker, es war fünf vor sechs. Noch fünf Minuten, bevor ich aufstehen und der wirklichen Welt gegenübertreten musste, in der Papa Tausende von Kilometern entfernt in Afrika saß und Karl tot war, in der sie Tante Edith mitgenommen und vielleicht getötet hatten und in der Raffi mich nicht mehr liebte.
Ich fing an zu weinen, den Kopf im Kissen vergraben, damit niemand mich hörte. Und dann fing ich auf einmal an zu beten. »Bitte, bitte«, sprach ich in mein Kissen, als gäbe es darin einen direkten Draht zu Gott, »zeig mir einen Weg.« Doch die Worte verloren sich in den Federn und ich fühlte mich erbärmlich. Ich hätte doch wissen können, dass Gebete nichts nutzten. Aber dann hatte ich plötzlich das Gefühl, Papa sei bei mir. Vielleicht dachte er ja gerade an mich, was auch immer er um diese Uhrzeit dort in Afrika tat. Und ich erinnerte mich daran, wie ich vor dem Krieg mit ihm gesprochen und er gesagt hatte, solange wir einander lieb hätten und daran festhielten, würden wir schon einen Weg finden. Also musste ich vielleicht einfach an meiner Liebe zu Raffi festhalten, obwohl er mich nicht mehr liebte. Und dann kratzte Muffi an der Tür und Mama rief: »Jenny, Zeit, aufzustehen, sonst kommst du zu spät in die Schule!«
Wir frühstückten bei heruntergelassenen Rollos im Wohnzimmer, sodass Raffi dabei sein und BBC hören konnte, den »Feindsender«, den die Nazis verboten hatten. Wir saßen dicht aneinandergedrängt ganz nah am Radiogerät, denn wir mussten die Lautstärke auf sehr leise drehen, damit die Tillmanns oben es nicht hörten, obwohl Raffi meinte: »Wahrscheinlich hören sie selbst gerade den Feindsender und kriegen es gar nicht mit«. Zum Glück lag zwischen unserem Wohnzimmer und der Wohnung der Mingers noch das Esszimmer.
Mama saß in der Mitte, zwischen Raffi und mir. Nun, wo ich mit ihm in einem Raum war, konnte ich nicht mehr daran glauben, dass es irgendetwas bringen würde, ihn weiter zu lieben. Ich empfand das Gleiche wie immer in der letzten Zeit, wenn ich in seiner Nähe war, ich fühlte mich elend und wütend und dumm – und schuldig, eben weil ich wütend war.
Ich wollte ihn nicht ansehen, deshalb starrte ich die glänzende Holzoberfläche des Radiogeräts und das Fächermuster des Lautsprechers an. Dieser Anblick war mir inzwischen so vertraut, dass ich ihn noch vor mir sah, wenn ich abends die Augen schloss.
Wir hörten BBC, weil man dort immer als Erstes von den deutschen Niederlagen erfuhr. Die deutschen Sender warteten bis zu einer Woche, bevor sie uns von den »strategischen Rückzügen« der deutschen Truppen berichteten, die angeblich alle nur Schritte auf dem Weg zum sogenannten »Endsieg« waren.
In der Schule behauptete Klotz, die Polizei verfüge über ein Spezialgerät, mit dem man feststellen könne, wer Feindsender höre. Mama erklärte das für Unsinn. »Wenn das wahr wäre, müssten sie halb Berlin ins Gefängnis stecken. Sogar Hartmut hört ausländische Sender.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Grete hat es mir bei der letzten Anprobe verraten.«
Im April beschloss Paulas Mutter, mit ihrer Tochter aufs Land zu ziehen.
»Noch vor Hitlers Geburtstag am zwanzigsten«, sagte Paula. Jeder ging davon aus, dass die Royal Air Force ihm diesen Tag mit einem massiven
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