Nicht ohne dich
kam näher. Ich zog mich zurück und versuchte die zwei Meter Abstand zwischen uns zu wahren. »Ich muss rauf zum Mittagessen.«
»Ein paar Minuten wirst du schon erübrigen können«, sagte er. »Oder etwa nicht?« Er maß mich mit Blicken von Kopf bis Fuß. »Du bist hübsch, Jenny. Ich – ich denke viel an dich.« Er hielt inne und kaute auf seiner Unterlippe. Dann fuhr er fort: »Weißt du, ein deutsches Mädel braucht sich heute nicht mehr aufzuheben, so viele Männer kommen an der Front um, und wir müssen dafür sorgen, dass die Nation Nachwuchs hat und …«
Mir war übel, und ich wollte einfach nicht glauben, was er da sagte. Ich blickte zur Werkstatttür – falls Mama noch da gewesen wäre, hätte ich mich zu ihr flüchten können –, aber das GESCHLOSSEN-Schild hing daran. Sie war schon hinaufgegangen. Ich sagte: »Mama wartet auf mich, unser Mittagessen wird kalt«, trat in die Passage und ging auf die Treppe zu, doch er kam mir nach und redete immer weiter.
»Du hast gutes Blut, weißt du. Du solltest dich einem wahren Arier hingeben. Ich bewerbe mich vielleicht für die SS …«
Ich spürte seinen Atem im Nacken und dachte: Gleich packt er mich, und dann trete ich ihm auf den Fuß. Doch da öffnete sich die Ladentür und seine Mutter stürzte heraus. »Schamloses Flittchen!«, kreischte sie. »Stellt sich zur Schau und verdirbt meinen Sohn! Du hast Glück, wenn ich dich nicht anzeige, wirklich. Und was dich betrifft, Willi, was bildest du dir eigentlich ein, willst du dich etwa mit der besudeln?«
Da rannte ich weg, den ganzen Weg bis nach oben.
»Was war denn da los?«, fragte Mama, als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss gefallen war.
Raffi war in den Flur gekommen – wir hatten entschieden, dass er sich tagsüber dort aufhalten konnte, weil es keine Fenster gab. Aber ich wollte ihn gar nicht sehen, weil er nichts von mir wissen wollte, offenbar im Gegensatz zu Willi. Es war alles so schrecklich und ich wollte auf gar keinen Fall darüber reden.
Ich schüttelte den Kopf. »Bloß die Besenstiel unten, sie ist ausgerastet. Wegen Willi.« Erst dann sah ich Mama an und bemerkte den angespannten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Meine Kehle wurde ganz eng vor Angst.
»Mama, irgendwas ist doch passiert?«
»Papa hat geschrieben. Passiert ist nichts, aber …«
Meine Lieben, hieß es in dem Brief. Inzwischen hatten wir alle gelernt, in diesen kurzen Briefen jedes nicht unbedingt notwendige Wort wegzulassen. Nach Amerika. Behandlung dort gut. Aber weit weg. Seid beide immer in meinem Herzen. Passt auf Euch auf. Interessant Amerika sehen. Dietrich. Papa.
Ich umarmte Mama, den Brief immer noch in der Hand, er knisterte an ihrem Rücken. Nachdem sie mich kurz und traurig gedrückt hatte, ließ sie mich los und fing an hervorzusprudeln, Papa werde in Amerika in Sicherheit sein, dort herrsche kein Krieg, er werde gut verpflegt – und mir war klar, dass sie Raffi zuliebe tapfer war, denn wir wussten doch immerhin, wo Papa hinkam. Was mit Tante Edith war, wusste niemand. Auch ich spielte die Tapfere, obwohl ich all die Tausende Kilometer grauen, aufgewühlten Atlantik vor mir sah, die uns nun von Papa trennen würden – vielleicht war das nicht schlimmer als Afrika, aber es kam mir schlimmer vor. Und dann dachte ich an Tante Edith und fragte mich, wo sie wohl war und ob sie noch lebte, und das war das Schlimmste überhaupt.
Mama sagte: »Raffi hat meine ganze Buchführung erledigt.«
»Das war doch nicht der Rede wert«, erklärte Raffi schulterzuckend.
Es war aber doch eine ganze Menge, wegen der Schneiderarbeiten. Nicht nur für Tante Grete. Etliche Freundinnen meiner Tante hatten ihre neue Garderobe bewundert und wollten, dass Mama auch für sie arbeitete. Ehefrauen von hochrangigen Nazis, die sich für Nazi-Empfänge ausstaffieren lassen wollten – und Stoff in Hülle und Fülle organisieren konnten. Es war auch in anderer Hinsicht nützlich. Wir wussten, warum Mama nicht abgezogen wurde, um kriegswichtige Tätigkeiten zu verrichten.
Zu Mittag gab es Brot mit Rübensirup. Weil Tante Grete gerade wieder einmal Hildegard und Kunigunde auf dem Land besuchte, gingen uns die Vorräte aus. Raffi aß in seinem Zimmer, ich mit Mama in der Küche. Angeblich wurde man eher satt, wenn man das Essen nicht hinunterschlang, also kaute ich langsam, so schwer mir das auch fiel. Anschließend tranken wir Kaffee, Getreidekaffee mit einer Prise gemahlenem Bohnenkaffee aus einem von Tante Gretes
Weitere Kostenlose Bücher