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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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Aber während ich das dachte, schlug ich nicht etwa den Weg nach Hause ein, sondern ging in die entgegengesetzte Richtung, nämlich zum Haus der Schreibwarenhändlerin Frau Grün. Vielleicht war es der gleiche Stolz, aus dem heraus ich nicht gewollt hatte, dass er mich weinen hörte. Ich würde ihm sein Papier besorgen, es ihm mit einem Lächeln überreichen und ihn nicht merken lassen, dass er mir das Herz gebrochen hatte. Oder vielleicht war ich einfach auch nicht darauf aus, in die Wohnung zurückzukommen, in der er wartete.
    Unsere Schulhefte hatten wir früher immer bei Frau Grün gekauft, jedoch keine Schwarzmarktware, darum war ich nicht sicher, ob sie mir vertrauen würde. Aber ich musste es wenigstens versuchen. Zum Tausch würde ich ihr die letzten Kaffeebohnen aus der Speisekammer anbieten.
    In ihrer Straße hatte eine Bombe eingeschlagen; sie hatte einen Krater in die Fahrbahn gerissen, einige Häuser auf der rechten Seite zerstört und die Fronten von zwei Häusern gegenüber weggefetzt. Ich ging den schmalen Pfad entlang, den man vom Schutt befreit hatte, und starrte empor zu den Häusern, die wie riesige Puppenstuben wirkten. Man sah all die Küchen, die Wohnzimmer und die Schlafräume, in vielen stand noch das gesamte Mobiliar, bloß von einer weißen Staubschicht überzogen, und Stühle und Nachtkästchen waren umgekippt, als wäre das Riesenkind beim Aufräumen unachtsam gewesen. Auch Menschen waren da oben, sie retteten ihre Sachen, ließen sie an Seilen aus den Obergeschossen hinunter oder schleppten sie aus dem Erdgeschoss heraus und stapelten sie an der Straße auf. Ich versuchte mir vorzustellen, wo Raffi hingehen könnte, wenn das mit unserem Haus geschehen würde.
    Im Nebenhaus waren nur ein paar Scheiben zerbrochen und die Fassade wies Risse auf. Beim Krämer im Erdgeschoss stand eine ansehnliche Schlange, an deren Ende ein kleines Mädchen im Kinderwagen quengelte, es wolle nach Hause. Die Mutter drehte sich zu der Kleinen um und fuhr sie an: »Sei still, Heidi, wir müssen warten, bis wir an der Reihe sind, anders geht es eben nicht!«
    Frau Grün erklärte mir zunächst, sie habe kein Papier, aber als ich ihr das Tütchen Kaffeebohnen zeigte, gab sie mir ein Heft; dünnes, raues Papier, aber eine ganze Menge Seiten. Auch einen Bleistift bekam ich. Jetzt musste ich nach Hause. Die kleine Heidi und ihre Mutter standen immer noch an, als ich an ihnen vorbeiging; das Kind lutschte am Daumen, und die Mutter unterhielt sich mit der Frau, die hinter ihr stand. Jetzt waren nur noch zwei Leute vor ihnen.
    Ich war gerade in der nächsten Straße angelangt, als die Explosion passierte.
    In der einen Minute war ich noch mit den Taschen, deren Henkel mir in die Finger schnitten, unterwegs, in der nächsten stand ich platt gegen eine Wand gedrückt, die Hände über dem Kopf, die Taschen zu meinen Füßen. Ein paar Minuten lang wagte ich mich nicht zu rühren, ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch lebte. Dann trat ich von der Wand weg. Ich zitterte.
    Jemand schrie. Ich fühlte mich benommen. Ein Zeitzünder, dachte ich. Manchmal wurden Bomben so präpariert, dass sie erst Stunden oder gar Tage nach dem Abwurf zündeten. Ich raffte meine Taschen zusammen – zum Glück war nichts Zerbrechliches drin, aber zwei Kartoffeln waren davongerollt und ich musste sie aufsammeln.
    Ich ging zurück, um mir anzusehen, was passiert war. Das Kopfsteinpflaster war mit Glassplittern, Holzstücken, Ziegelteilen übersät, auch ein halbes Sofa lag da – und direkt vor meiner Nase ein kleiner Arm. Ich dachte sofort an Theresia. Nein, das war vor fünf Jahren gewesen. Dann bemerkte ich, dass aus dem Armstumpf etwas Rotes sickerte.
    Vor fünf Jahren hatte ich einen Puppenarm gesehen und für den eines Kindes gehalten, jetzt war es umgekehrt. Mir fiel das weinende kleine Mädchen im Kinderwagen ein. Heidi. Ich starrte wieder auf den Arm; die Druckwelle hatte ihn etwa fünfhundert Meter die Straße hinunter geschleudert. In meinen Ohren pfiff es, und in mir war alles taub, ich fühlte gar nichts.
    Dann sah ich ungefähr einen Meter vor mir noch etwas. Drei Dosen lagen dicht beieinander. Ohne zu überlegen, was ich da tat, bückte ich mich und hob sie alle auf. Ich stopfte sie in meine Tasche und machte mich auf den Heimweg, in normalem Tempo, ich rannte nicht. Das wäre verdächtig gewesen. Jetzt war ich eine Plünderin.
    Als ich in der Werkstatt Muffi abholte, nähte Mama gerade einen Ärmel an eine Jacke

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