Nicht ohne dich
und so viel Zeit hatte sie eigentlich nicht. Ich wusste, warum es passiert war.
»Das war schlimm, was?«
Sie nickte. Ganz leise erkundigte sie sich dann: »Waren das die Hanteln?«
Ich nickte. »Er hat versprochen, besser aufzupassen.«
Sie begann die Stiche mit ihrer kleinen spitzen Nähschere aufzutrennen. Dann sagte sie noch leiser: »Ich wünschte, das alles wäre endlich vorbei, Jenny.«
Ein paar Wochen später stieß Raffi in seinem Zimmer etwas um, als Onkel Hartmut und Tante Grete bei uns im Wohnzimmer saßen. So, wie es sich anhörte, wohl ein Buch. Bis dahin hatte er sich immer ganz still verhalten, wenn Besuch da war.
»Was war denn das?«, fragte Tante Grete und machte Anstalten, aufzustehen.
Meine Hände und Füße wurden eiskalt, aber diesmal ließ sich Mama etwas einfallen.
»Bleib sitzen, Grete«, sagte sie. »Es war der Hund.«
Onkel Hartmut runzelte die Stirn und blickte mich starr an. Ich versuchte, ein unschuldiges, nichtsahnendes Gesicht zu machen.
»Ach so, natürlich, der Hund«, meinte Tante Grete und ließ sich wieder aufs Sofa sinken. »Ach Sylvia, ich bin in letzter Zeit so nervös – ständig erschrecke ich, dauernd bekomme ich Herzklopfen. Dabei würde ich so gern irgendeine kriegswichtige Arbeit leisten, aber der Arzt sagt, das kann ich vergessen. Natürlich gehe ich zu den Frauenschaftsnachmittagen. Wir zupfen Scharpie für Verbandsmaterial, man muss schließlich tun, was man kann, um einen Beitrag zum Endsieg zu leisten.« Sie blickte mich aus dem Augenwinkel an. »Du bist ziemlich mager, Jenny. Ja, ihr seid beide dünn. Das kommt bestimmt von der Angst vor den Bombenangriffen.«
Onkel Hartmut musterte uns, als würde er die Kalorien unserer Lebensmittelzuteilung mit denen aus Tante Gretes Essenspaketen zusammenzählen und das Ganze zu unseren Fettreserven ins Verhältnis setzen. Wenn doch nur mein Herz nicht so laut hämmern würde, dachte ich.
Mama sagte: »Ich habe so viel zu tun, und Jenny ist immer unterwegs, einkaufen …«
»Na, wenigstens seid ihr gesund«, meine Tante Grete. »Jedenfalls habe ich euch diesmal ganz viel Essen mitgebracht, dann muss Jenny nicht so viel laufen. Spargel und zwei Gläser Marmelade, Erdbeer und Himbeer. Und Schwarzwälder Schinken. Die nächsten drei Wochen werde ich in Berlin sein. Ich dachte, in der Zeit könntest du mir noch ein paar Abendkleider schneidern, Sylvia.«
Tante Grete hatte ständig Bedarf an neuen Abendkleidern. Sie musste an Empfängen, Bällen und Abendessen mit hochrangigen Nazis teilnehmen, »und da kann man natürlich nicht mehr als zwei Mal das gleiche Kleid tragen. Ich muss hübsch aussehen, das ist wichtig für die Moral.«
Sie begann sich mit Mama über Stilfragen und Stoffe zu unterhalten, doch Onkel Hartmut ließ den Blick durch den Raum schweifen, als suchte er nach Hinweisen auf Raffis Anwesenheit. Für Kleider interessierte er sich nicht und er traute uns alles zu. Immerhin hatte er mich mit Raffi im Café Kranzler gesehen. Schließlich begegneten sich unsere Blicke, und dieses Mal sah ich nicht weg, denn plötzlich dachte ich: Er hört BBC und weiß, dass es mit dem Krieg nicht gut steht. Und er glaubt, wir wären mit General Montgomery verwandt. Falls er zu wissen meint, dass wir Raffi verstecken, wird er daran denken, dass wir ihm eines Tages, wenn er es mit den Alliierten zu tun bekommt, nützlich sein können.
Er runzelte erneut die Stirn, diesmal mit Blick auf mich, so als hätte er meine Gedanken gelesen und missbilligte sie.
Als sie fort waren, kam Raffi heraus, um zu sagen, wie leid es ihm tat – aber in seinem Blick lag etwas Wildes. »Ich halt das nicht mehr aus«, sagte er. »Und ihr habt bestimmt auch die Nase voll davon, dass ich Dummheiten anstelle und euch in Gefahr bringe.«
»Bitte, Raffi …«, beschwichtigte ihn Mama. »Du gehörst zu uns. Du bist ein Teil unseres Lebens. Also sag so etwas nicht. Versuch einfach nur, vorsichtig zu sein.«
Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch er entgegnete: »In Ordnung, Tante Sylvia.«
Später sagte sie zu mir: »Und was ist, wenn er wegläuft, Jenny?«
Einmal, als ich nach Hause kam, war es in der Wohnung so still, dass ich überzeugt war, er sei fort. Bei dem Gedanken, ihn nicht mehr sehen zu müssen, fühlte ich mich einen Augenblick lang frei und wie erlöst – doch dann bekam ich schreckliche Angst, denn ich wusste, dass ich es nicht ertragen würde, ihn zu verlieren.
Ich stellte die Einkaufstaschen im Flur ab, rannte zu
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