Nicht ohne dich
Himmel der Liebe.
Raffi stand neben mir, jetzt noch dreckiger als zuvor. Er wischte sich den Schaum vom Mund und sah mich so eindringlich an wie damals im Café Kranzler – und mein Herz flatterte vor Freude wie ein wilder, toller Vogel.
»Jenny?«, sagte er.
Der alte Filmstar zog eine ältere Dame auf die Füße.
»Darf ich bitten?«, forderte er sie auf, und sie fingen zu tanzen an, Wange an Wange. Ein weiteres Paar tat es ihnen nach, dann noch eines. Ich konnte nicht fassen, dass das wirklich passierte.
Da sagte Raffi zu mir: »Jenny, tanz mit mir. Bitte!«
Wir mussten mit sehr wenig Platz auskommen, und Muffi trippelte verwirrt im Halbkreis neben uns her, soweit es ihre Leine zuließ. Raffi hielt mich fest, als wäre ich für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt.
»Ich muss dir etwas sagen, Jenny«, sagte er. »In den letzten Monaten, da habe ich mich dir gegenüber lausig verhalten, das weiß ich. Ich hatte das Gefühl, dass ich dich nicht verdiene.« Seine Finger verstärkten ihren Griff.
»Dass du mich nicht verdienst?«, fragte ich. Etwas geriet mir in den Hals und ich musste husten. Im Raum schwebten Rauchschwaden. Es stank. Ich dachte: Lass uns nicht ersticken, bevor wir miteinander geredet haben. Bitte. Bitte.
»Meine Herrschaften«, begann Frau Kaiser, wurde jedoch durch einen Hustenanfall unterbrochen. »Gasmasken!«, krächzte sie. »Oder irgendetwas anderes, um …« Dann gab sie es auf. Wir wussten ohnehin, was sie meinte.
Ich zog mir das Halstuch über den Mund. Raffi fummelte nach seinem Taschentuch und ich nahm Muffi auf den Arm, wo sie wieder die Schnauze unter meinen Arm steckte. Das Grammophon spielte nicht mehr den schönen, schmalzigen Schlager, aber Raffi legte seinen Mund an mein Ohr und redete durch das Taschentuch weiter.
»Ich gestand es mir nicht zu, glücklich zu sein, weil sie Mama mitgenommen hatten und ich in Sicherheit war. Vielleicht ist das nicht nachvollziehbar, aber so empfand ich es.«
Ich fand sein Ohr und entgegnete: »Aber das war alles meine Schuld, Raffi, ich hätte einfach die erste Trambahn erwischen müssen.«
»Es ist nicht deine Schuld, Jenny. Da könntest du genauso gut sagen, es ist deine Schuld, weil du nicht nach Moabit fliegen konntest. Hör mal, als vorhin das Haus eingestürzt ist, da dachte ich, ich hätte dich auch noch verloren, und da ist mir klar geworden …« Er konnte vor Husten nicht weiterreden.
Der Rauch drang durch mein Halstuch und ich musste ebenfalls husten.
Und dann hörten wir Frau Kaiser rufen: »Der Notausstieg ist frei! Bitte kein Gedrängel beim Hinausgehen!«
Ich wollte nur raus dort, aber Raffi und ich befanden uns fast am Ende der Schlange. Die Luft war mittlerweile so dick vor Rauch, dass man nicht mehr bis zum Notausstieg sah, sondern nur den matten Schein der Taschenlampen, mit denen die Leute sich den Weg leuchteten. Raffi hatte den Arm um mich gelegt, ich hielt Muffi, und so bewegten wir uns hustend voran, wie alle anderen auch.
Der Filmstar und seine Tanzpartnerin waren direkt vor uns. Beide trugen elegante schweinslederne Koffer, die ältere Dame hatte sich ihren Nerzmantel über den Arm gelegt.
Raffi bewegte sein maskiertes Gesicht ganz nah an mein Ohr und krächzte: »Mir ist klar geworden, wie sehr ich dich liebe.«
»Ich liebe dich auch, Raffi«, brachte ich heraus, ehe ich den nächsten Hustenanfall bekam. Über uns tobte das Feuer lauter denn je, ich konnte kaum fassen, dass die Kellerdecke immer noch standhielt. Mein einziger Gedanke war jetzt: Lass uns bloß hier rauskommen. Bitte. Bitte. Ich wollte unbedingt überleben, nun genügte es mir nicht mehr, dass wir hatten reden können.
Raffi zog mich an sich und küsste mich durch sein Taschentuch und mein Halstuch auf die Wange. Schritt für Schritt ging es im Schneckentempo voran. Schließlich waren wir so nah an den Notausstieg herangekommen, dass wir ihn im Licht von Frau Kaisers Taschenlampe erkennen konnten. Eine Frau hievte ihren Koffer durch und stieß damit gegen die ausgezackte Öffnung. Mach schon, dachte ich. Beeilung! Dann kletterte eine Frau mittleren Alters durch, die einem gebrechlichen alten Mann durch die Trümmer half. Schließlich war die Partnerin des Filmstars an der Reihe. Der Star folgte ihr, er war noch ziemlich gelenkig für sein Alter. Und dann kamen wir an die Reihe. Zum ersten Mal fragte ich mich, welche Gefahren uns wohl auf der anderen Seite erwarteten.
Meine Taschenlampe fiel mir ein. Ich fummelte sie aus der Tasche
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