Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
dieser Heilige Abend wie kein anderer Tag deutlich machte, dass unsere Welt unwiederbringlich zerbrochen war, dass nichts mehr war wie zuvor. Eigentlich gab es doch auch keinen Grund, wehmütig diesen Zeiten nachzutrauern, in denen wir, kaum waren wir wieder zu Hause, zusammengeschlagen und gequält worden waren. Und doch war gerade Weihnachten in Holland bei Ma und Pa immer »heile Welt« gewesen, und wie das Erinnern nun mal funktioniert, wenn es »der Stimmung wegen« alles Schlimme herausfiltert, so war es einfach schrecklich traurig, dass es so hatte kommen müssen.
Später, während der Bescherung, nahm mein Opa mich ganz fest in den Arm und drückte mir Geld in die Hand, was mich wieder sehr befremdete. Doch nach einer Weile begriff ich seine Hilflosigkeit. Wahrscheinlich dachte er, wenn sonst nichts hilft, vielleicht freut sie das. Schließlich hatte ich allen gesagt, dass ich keine Geschenke wollte, sondern mir Geldbeiträge für meinen Iran-Flug wünschte.
Ein paar Tage später ging es dann tatsächlich nach Teheran. Für diese Reise hatte ich mir extra einen Tschador von einer iranischen Klassenkameradin ausgeliehen, doch als ich mir kurz vor der Landung das Ding überzog, fiel ich völlig aus dem Rahmen. Alle anderen jungen Frauen banden sich lässig ihr Kopftuch um, zogen ihre mehr oder weniger langen Trenchcoats über und starrten mich neugierig an in meinem bis zum Boden reichenden schwarzen Umhang, der auch mein Haar verbarg. Bei Ramesh angekommen stopfte ich das Ding in den Koffer, lieh mir von seiner Mutter Kopftuch und Mantel, und so war es okay.
Diese zehn Tage waren ein absolutes Kontrastprogramm zu meinem missglückten Versuch, kindliche Weihnachten wieder aufleben zu lassen. Ich war Gast einer reichen Familie, die sich mit dem Regime offenbar gut arrangiert hatte, und so lernte ich auch nur die goldene Seite des Landes kennen. Wie es der armen Bevölkerung erging, das erfuhr ich nicht, doch ich wusste natürlich, dass es viele Parallelwelten zu der meines Freundes Ramesh geben musste.
Eigentlich war alles verboten, und dennoch war alles möglich. Die Frauen waren unter ihren Mänteln sogar noch krasser angezogen als ich in meiner wildesten Phase. Ich war während des Ramadan dort, und so konnte man nicht einmal einen Apfel in der Öffentlichkeit essen, ohne eine Strafe zu befürchten. Auch westliche Musik, ja alle europäische und amerikanische Kultur war verboten. Als wir einmal im Auto fuhren, wurden wir von Sicherheitskräften angehalten und stundenlang aufgehalten – nur weil ich vorne auf dem Beifahrerplatz gesessen hatte, statt hinten.
Doch wie immer findet sich unter einem rigiden Regime auch jede Menge Subkultur, und so kam es, dass ich auch in Teheran eine Band traf, die Musik von den »Doors« spielte und Songs aus dem Musical Hair sang. Es war ein Freund von Ramesh, der uns durch verschwiegene Gassen führte, durch Hauseingänge und Kellergewölbe, bis wir auf einmal diese Musik hörten. Da war eine Band, die heimlich probte, während man nicht einmal im Radio Musik hören durfte. Es rührte mich sehr, dass auch hier die jungen Leute von der Musik bewegt waren, die mir so viel bedeutete. Die Bandmitglieder trugen alle Mullah-Bärte, während sie »Come on, Baby, light my fire« und »This ist he dawning of the age of aquarius« sangen – es war einfach großartig.
Rameshs Eltern besaßen ein riesiges, wunderschönes, palastartiges Haus, und ich kam mir vor wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ich wurde nicht müde, die Schönheit und Eleganz bis in die winzigen Details der Architektur, der Möbel bis hin zum Geschirr zu bewundern. Da im Iran in der Öffentlichkeit so gut wie nichts stattfinden kann, ist das gesamte Leben auf das Haus konzentriert. Und so gibt es prächtige private Gärten, die jetzt im Winter unter einer feinen Schneeschicht in ihrer Schönheit erstarrt waren; alles, was im Sommer an Wasser floss, stand still, die Pflanzen ruhten, und in dieser Pracht fand ich auch den eleganten weißen Schäferhund, den ich schon von den Fotos kannte, die Ramesh mir geschickt hatte, nur dass er jetzt in einem Zwinger im Garten fror und seine Ohren kupiert waren.
Nach zwei, drei Tagen in Teheran fuhr Ramesh mit mir nach Damavand, das im Gebirge in einem Skigebiet liegt und wo Rameshs Eltern eine Hütte besaßen. Stundenlang saßen wir vor dem Kaminfeuer und redeten.
Mit Ramesh verbindet mich bis heute eine enge Freundschaft, auch wenn unsere Welten – wie ich
Weitere Kostenlose Bücher