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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
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unmöglich sehen könne. Auf diese Weise wurde er unglaubwürdig, und das hat uns leider geschadet. Bei solchen Gelegenheiten wachte mein Vater jedes Mal aus seiner Lethargie auf, nickte heftig, blickte wild um sich und erwartete, dass nun endlich eine Entscheidung zu seinen Gunsten kommen müsste.
    Eine andere Situation brockte ich mir selbst ein. Es ging um die Frage, ob ich damals in dem Hotelzimmer in der Türkei Todesangst empfunden hatte, als mir mein Vater die Pistole an die Schläfe gesetzt hatte.
    »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Aber nicht, weil ich daran gezweifelt hätte, dass mein Vater ernst machen würde, sondern weil ich inzwischen mit dem Leben abgeschlossen hatte. Doch das Gericht wertete mein »Nein« so, dass die Situation insgesamt nicht lebensbedrohend gewesen sei. Von diesen beiden Situationen abgesehen, schien unser Fall glasklar, und die Schuld meines Vaters ebenso.
    Mein Vater störte so oft den Fortgang des Gerichts, dass er hohe Summen an Ordnungsgeldern bezahlten musste – alternativ summierten sich die Tage, die er stattdessen im Gefängnis verbringen konnte. Am Ende legte er Teilgeständnisse ab. Doch bis zuletzt behauptete er, er sei das Opfer eines Komplotts zwischen Elke und mir.
    Der Prozess steuerte auf seinen Höhepunkt zu. Zu dem Plädoyer der Staatsanwältin wusste Hamid Al-Mer nur zu sagen: »Das sagt eine Frau. Das geht bei mir zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus«, worauf er prompt weitere 500 Mark Ordnungsgeld aufgebrummt bekam. Auch den Richter selbst beleidigte er mehrfach, und als das Urteil verkündet wurde, erklärte er, dass er mich töten würde, und wenn nicht er, dann würde sich schon ein anderer aus der Familie finden, der das für ihn erledigte.
    Im Januar 1999, kurz vor meinem 18. Geburtstag, wurde mein Vater zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sich Hamid Al-Mer der gefährlichen Körperverletzung, Bedrohung, des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, der Sachbeschädigung und Vergewaltigung schuldig gemacht hatte.
    Ich war erleichtert. Endlich war er hinter Schloss und Riegel. Für mich bedeutete das, ich musste nicht mehr unter seiner direkten Bedrohung leben. Und doch fand ich keinen Frieden. Seine Drohungen nach der Urteilsverkündung schürten meine tiefsten Ängste. Niemand machte Anstalten oder traf irgendwelche Vorkehrungen, mich zu schützen. Noch war ja nichts passiert. Auf meine Genugtuung folgten darum Phasen der Verzweiflung und Todesfurcht. Wir hatten gewonnen – doch zu welchem Preis?
    Mein Vater wollte zunächst Berufung gegen dieses Urteil einlegen. Doch dann gingen ihm wohl die Mittel aus: Er war arbeitslos, hatte Frau und Kind, ein zweites Kind war unterwegs.
    So froh ich über das Urteil war, so sah ich doch mit Verwunderung, wie mein Vater alles Mögliche angeboten bekam, kostenlose Therapie und vieles mehr, während ich zusehen konnte, wie ich mit meinen Traumata zurechtkam. In jenen Wochen und Monaten nach der Urteilsverkündung fiel ich in ein tiefes Loch. Mir wurde bewusst, wie wenig man sich um die Opfer von Gewalttaten kümmert, während die Täter alle möglichen Hilfsangebote erhalten. Einerseits war ich euphorisch über unseren Sieg, andererseits merkte ich, dass ich nun dringend Abstand von der ganzen Sache brauchte.
    Man könnte sagen, ich tauchte ab in dieser Zeit, wollte so weit wie möglich weg aus Mönchengladbach, wo zwar mein Vater inzwischen hinter Gittern saß, jedoch meine gesamte Familie vor Wut schäumte. Ich wusste, keiner meiner Onkel hatte persönlich etwas gegen mich. Genauso wusste ich aber auch aus Erfahrung, dass mein Vater seine Brüder voll im Griff hatte. Und ich lag mit meiner Angst nicht falsch: Viele Jahre später sollte mir mein Bruder erzählen, dass unser Vater von ihm verlangt hatte, mich umzubringen, was für Mourad allerdings niemals in Frage kam.
    Und so schloss ich einfach meine Wohnung ab und fuhr nach Barcelona. Von Freunden hatte ich gehört, dass es dort cool sei, einer kannte einen anderen, und so landete ich in einem besetzten Haus in dieser faszinierenden Hauptstadt Kataloniens, wohnte unter Hippies, Musikern und Malern, Punks und Lebenskünstlern. Wir machten Straßenmusik auf der Rambla, probierten dies und das aus, ich improvisierte meine ersten Songs, philosophierte auf der Plaza Real mit den anderen über Gott und die Welt und genoss es, weit, weit weg zu sein von meinem Vater, von Mönchengladbach, von allem, was

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