Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
sie eingelocht würden und er das anvertraute Geld für sich behalten konnte. Wie sonst wäre die Polizei wohl auf die Idee gekommen, sie so zielsicher aus dem Verkehr zu ziehen? Schon beim ersten Verhör verpfiffen sie ihn.
»Obwohl ich von all dem nichts wusste«, erzählte mir Mourad viele Jahre später, »wurde ich plötzlich mitten in der Nacht wach und dachte, dass es vielleicht besser wäre, das Geld zu verstecken. Es war einfach eine Ahnung, mehr nicht.«
Und so stand Mourad auf und verbarg das Geld in einer leeren Zigarettenschachtel, die er in den Mülleimer schob, direkt unter die Plastiktüte. Minuten später wurde die Wohnung unseres Vaters, in der Mourad damals wohnte, von Spezialeinheiten der Drogenfahndung gestürmt.
Auch wenn sie die Wohnung noch so auf den Kopf stellten, das Geld, dessen Summe die beiden Drogendealer haargenau angegeben hatten, fanden sie nicht. Dennoch nahmen sie Mourad mit. Im Gehen sagte er zu seinem Vater auf Türkisch, sodass die Beamten ihn nicht verstehen konnten: »Das Geld ist im Mülleimer. Heb es für mich auf.«
Während der Verhöre, die bis in die Morgenstunden dauerten, leugnete Mourad unerschütterlich, irgendetwas mit dem Drogenfund und seinen Kumpels zu tun zu haben. Schon sah es so aus, als müssten sie ihn wieder laufen lassen, denn außer der belastenden Aussage hatten die Fahnder nichts gegen ihn in der Hand. Da stürmte am Morgen Hamid auf die Polizeiwache, das Geld in der Hand.
»Mein Sohn ist nur ein wenig irregeleitet«, sagte er. »Hier ist das Geld, das Sie suchen. Ich will nichts mit der Sache zu tun haben.« Und so brachte er seinen Sohn erst so richtig in Schwierigkeiten.
Dieses Mal hatte mein Bruder Glück: Statt einer Haftstrafe wurde er zu Sozialdiensten verurteilt. In dieser Zeit verbrachte er viel Zeit mit seiner Freundin, die einige Jahre älter war als er, und zog schließlich zu ihr. So gelang es ihm, die Dealerszene hinter sich zu lassen und sich endlich von meinem Vater zu lösen.
Nach seinem missglückten Versuch, sich selbst zu verbrennen, hatte sich mein Vater für die Gerichtstermine eine andere Taktik ausgedacht: Von nun an starrte er mich aus seinen schwarzen Augen an mit jenem Blick, der mir in meiner Kindheit solche Angst eingejagt hatte. Es war der Blick, der mir früher gesagt hatte, dass ich gleich fürchterlichen Strafen ausgesetzt sein würde. Der Blick, der heute sagte: »Meral, du bist tot. Du bist so gut wie tot.«
Ich hielt ihn aus, auch wenn er mir mitunter immer noch an die Nieren ging. Diesem Blick ausgesetzt zu sein und dennoch nicht vor Angst zu erstarren, zeigte mir jeden Tag aufs Neue, wie weit ich mich bereits von ihm gelöst hatte. Er besaß keine Macht mehr über mich. Nur in den Nächten, wenn mich die Albträume quälten. Nur an den Tagen zwischen den Verhandlungen, wenn ich wieder einmal nicht wagte, das Haus zu verlassen. Doch ich war auf dem Weg, er würde mich nicht aufhalten. Es hatte in jener Nacht begonnen, als ich Behzad ins Krankenhaus begleitete und mitansehen musste, wie seine wunderschönen Dreadlocks fielen. Damals hatte ich den Schwur getan und die verzweifelte Kraft gefunden, noch in derselben Nacht meinen Vater anzurufen, um ihm zu sagen, dass er für alles bezahlen würde. Damals hatte in mir eine Art Bombe zu ticken begonnen, und jene Mischung aus Furcht und Rache, dieser bittere Geschmack von Todesangst und Entschlossenheit, hielten mich über Wasser und trieben mich voran. »Und wenn ich sterbe«, dachte ich oft. »Und wenn es mein Tod sein sollte. Aber dieser Terror muss ein Ende haben.« Jemand musste meinem Vater Einhalt gebieten. Und wenn es niemand anderer tat, dann eben ich.
Mitunter war das Gericht zu wohlwollend mir gegenüber. Zum Beispiel war da ein psychologischer Gutachter, für den es eine ausgemachte Sache schien, dass mein Vater verurteilt werden sollte. So passierte ihm ein Fehler, und das war nicht gut für mich.
Es ging um die halbmondförmige Narbe, die ich davongetragen hatte, als mein Vater mir seine brennende Zigarette über der Stirn direkt unter dem Haaransatz ausgedrückt hatte. Der Gutachter wurde für das Protokoll gefragt, ob diese Narbe deutlich zu sehen wäre. Er bejahte, ohne richtig hinzusehen. Da wandte der Verteidiger meines Vaters ein, dass er genauso weit von mir entfernt säße und die Narbe nicht sehen könne. Daraufhin wurde ein unbefangener Dritter geholt, der bestätigte, dass man die Narbe aus der Entfernung, die der Gutachter angegeben hatte,
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