Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
dann nicht auf die Schnauze gehauen hätte. Ich wusste, mein Vater kann hier nirgendwo auftauchen, ich bin frei, frei, frei! Noch heute erlebe ich solche intensiven Momente des Glücks, auch wenn es inzwischen mehr und mehr zur Normalität für mich geworden ist. Dann fühle ich, dass ich nicht nur äußerlich frei bin, sondern auch ganz tief in mir drin, dass ich mein Leben in der Hand habe, dass es keine Probleme gibt, die sich nicht lösen lassen.
In jenem ersten Frühling in Berlin fand Violetta, meine Vermieterin, eine wundervolle Wohnung für mich, drittes Obergeschoss Seitenflügel in der besten Gegend des Kiezes, und hier wohnte ich die nächsten acht Jahre für eine unglaublich günstige Miete. Von Anfang an gefiel es mir im Berliner Osten. Hier herrschte – zumindest damals – ein toller Zusammenhalt, und das Leben war längst nicht so anonym wie im westlichen Teil der Stadt.
Mein Vater hatte mich mein Leben lang vor Männern gewarnt, aber so langsam kam ich dahinter, dass er dabei eigentlich nur sich selbst gemeint haben konnte. Weder in Berlin noch auf meinen Reisen durch die Welt ist mir bis heute jemand begegnet, der so brutal zu mir war wie er; überhaupt ist mir nie etwas geschehen. Tatsächlich hatte ich in der Fremde immer mehr Schutz als in meiner eigenen Familie.
Und nachdem ich im Kiez richtig angekommen war, fügte sich endlich eines zum anderen. Da befreundete ich mich mit jemandem, der mir sein Klavier als Leihgabe vermachte. Ich war mit dem Vorsatz nach Berlin gekommen, hier meine eigene Band zu gründen. Und als ich beschloss, diesen Plan in die Tat umzusetzen, erlebte ich, dass in Berlin alles nur auf mich zu warten schien.
Für die Band brauchte ich einen Schlagzeuger. Eines Tages traf ich einen Typen auf der Straße, der fragte mich: »Sag mal, singst du?«
»Ja«, sagte ich.
»Cool«, strahlte er, »ich spiel nämlich Schlagzeug und kenne einen super Gitarristen …«
»… und ich will sowieso eine Band gründen!«
»Na, das trifft sich doch gut. Brauchen wir nur noch einen Bassisten …«
Also fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Gegend, auf der Suche nach einem Bassisten. Da begegnete ich einem, der aussah, als müsste er einer sein: dunkle glatte Haare, die ihm tief in die Stirn fielen, das Gesicht blass und unter den Augen Ringe – nicht von dieser Welt. Später stellte sich heraus, dass er Model für Dior war, weil dieser fertige Look damals total angesagt war. Heute sehen die Jungs in Berlin Mitte fast alle so aus, doch Clemens ist das Original.
Ich sprach ihn an und fragte: »Spielst du Bass?«
Er sah mich verblüfft an: »Ja. Wieso?«
»Na ja«, sagte ich, »du siehst einfach so aus, als würdest du Bass spielen. Hast du Lust, mit uns in einer Band zu spielen?«
Er strich sich die Haare aus der Stirn und starrte mich an.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte er, »aber eben hab ich da drüben im Park zu meiner Freundin gesagt, dass ich mir unbedingt wieder eine Band suchen muss!«
Tatsächlich spielen wir heute noch zusammen.
Und so hatte ich bald alles, was ich brauchte. In Berlin konnte man damals mit wenig Geld auskommen; alles war so günstig, die Miete war niedrig, alles schien auf der Straße zu liegen. Brauchte ich einen Tisch, ging ich raus und fand einen. Damals standen viele Häuser leer, die Möbel lagen auf der Straße, da konnte man eine Menge toller Sachen entdecken. Eine Weile war das fast ein Zeitvertreib für mich: Menschen finden, Dinge finden. Damals machte ich eine wichtige Erfahrung, die bis heute gilt und sehr wichtig für mich geworden ist: Wenn ich in Bewegung bin, dann ist alles andere um mich herum auch in Bewegung, und alles, was ich brauche, findet sich.
In dieser Zeit bekam ich ein Stipendium, um an einer Berliner Musikakademie zu studieren, und das machte ich auch einige Monate, wenn auch nur mit halbem Herzen. Denn eigentlich war ich am liebsten mit meiner Band im Proberaum und sang mich gesund. Das war die beste Therapie für mich, in der Musik fand ich Heilung. In meine Songs, die ich selbst schrieb, legte ich all meine Gefühle, meine Verletzungen und meine Freude, und diese Energie übertrug sich auf die Zuhörer. Wir spielten, wo immer wir auftreten konnten, und wenn es irgendwo auf der Straße war.
Von Anfang an lief es mit unserer Band gut und dann immer besser; bald hatten wir unsere ersten Verträge, nahmen Songs auf und die erste Platte kam heraus. Wir tourten durch ganz Deutschland, und schließlich führte uns unsere
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