Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
bei meinem Besuch damals über dem Jahreswechsel 1999/2000 feststellte – sehr verschieden voneinander sind. Immer wieder muss ich an die Band mit den Mullah-Bärten denken, wie sie voller Inbrunst meine geliebten Songs spielte. Im Grunde, so zeigte mir dieses Beispiel, sind wir jungen Leute über alle Konventionen hinweg miteinander verbunden.
22
Neue Ufer
W ieder zu Hause, saß ich in meiner Wohnung und fragte mich: »Und was jetzt? Wie soll es weitergehen?«
Ich hatte keine Idee mehr, was ich in Mönchengladbach anfangen sollte. Auch die Tatsache, dass mein Vater nun im Gefängnis war, beruhigte mich nicht. Ich konnte immer noch nicht ohne schlimme Angstattacken durch die Straßen gehen. Bei jedem schwarzhaarigen Lockenkopf, den ich von ferne erblickte, krampfte sich mein Bauch zusammen, und ich war nur noch Angst. Jedes überraschende Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein. Auch wenn ich mich einige Kilometer außerhalb von Mönchengladbach aufhielt, in Krefeld oder sonst in der Umgebung, fühlte ich mich im Freien nur sicher, wenn jemand meine Hand hielt. Wenn das nicht möglich war, mussten vier Wände um mich sein, die mich beschützten. Jede Autotür, die irgendwo zugeschlagen wurde, sorgte dafür, dass sich mein Magen anfühlte wie ein Klumpen Blei. Dazu kamen noch andere seltsame Empfindungen wie zum Beispiel, dass jemand meinen Kopf gegen eine Wand oder auf den Boden schlüge. Dann sah ich grundlos Sternchen.
Es war also das Beste, ich verließ meine Heimat, so schwer es mir auch fiel, denn mein Freundeskreis war mir damals ein großer Halt. Die Welt stand mir offen, doch wohin sollte ich mich wenden?
Schließlich beschloss ich, zunächst ein soziales Jahr zu machen. Und dann geschah eine winzige Begebenheit, die wieder einmal mein Leben auf einen neuen Kurs brachte. Während eines Besuchs bei Freunden sah ich im Flur eine Pinnwand mit vielen Fotos, Sprüchen, Karten. Auf einer dieser Karten stand: »Geh doch nach Berlin! Wo die Verrückten sind, da jehörste hin!«
Es war wie ein Stromschlag, der mich traf, so als hätte man diese Karte ganz allein für mich gedruckt. Natürlich! Da wo die Verrückten sind, da gehörte ich hin. Und was bot sich in diesen Jahren mehr an als Berlin? Wenig später fuhr ich für ein Wochenende dorthin, und danach war die Sache beschlossen.
Nun ging alles sehr schnell. Ich kündigte meine Wohnung, stellte meine Sachen bei meinen Freunden unter, fand innerhalb eines Wochenendes schon eine Wohnung im Kiez, im Stadtteil Prenzlauer Berg. Damals wusste ich nicht, dass man auf gar keinen Fall eine Wohnung im Erdgeschoss des Vorderhauses nehmen sollte, denn zunächst einmal ist es hier immer dunkel, und außerdem wohnt man dort quasi auf dem Präsentierteller: Tagsüber führen die Leute ihre Hunde Gassi, und während der seinen Haufen schön unters Fenster setzt, glotzen dir Herrchen und Frauchen direkt aufs Bett. Nachts treffen sich hier die Nachtjacken, stellen ihr Bier auf deinem Fensterbrett ab und unterhalten sich, während du versuchst zu schlafen. In den frühen Morgenstunden rattern die Berliner Zeitungsverkäufer mit ihren Karren vorbei, dann ist es endgültig aus mit dem Schlaf. Da ich mit Großeltern aufgewachsen war, die in Holland lebten, hatte ich keine Vorhänge – und habe bis heute keine –, und so lebte ich also völlig ungeschützt wie in einem Schaufenster.
Genau so eine Wohnung hatte ich, noch dazu mit Ofenheizung – ich, die keine Ahnung hatte, wie man ein solches Ding anzündet. Ich hatte mir diese Wohnung ausgesucht, weil sie so schöne hohe Decken hatte; außerdem gab es eine freistehende Badewanne, gusseisern mit Löwenfüßen, in die ich mich sofort verliebte. Zwar war die Wohnung total verwohnt und heruntergekommen, doch ich stellte mir vor, dass ich alles schön renovieren würde und dann Schaumbäder in dieser tollen Wanne genießen könnte. Das mit den Schaumbädern habe ich auch gemacht, doch das Renovieren kriegte ich nicht hin. Wie denn auch, ich kannte ja niemanden in dieser Stadt.
Es fehlte mir nicht an Elan und gutem Willen; einmal kaufte ich in einem Baumarkt Holzdielen für den Fußboden, denn da war nur kalter Estrich drauf, und ich hatte ständig kalte Füße. Weil ich niemanden kannte, der ein Auto hatte, transportierte ich die Dielen im Taxi nach Hause, was natürlich teuer und extrem uneffektiv war. Da lagen sie nun, doch zum Verlegen kam es nie.
Es gab in diesen ersten Monaten viele Tage, an denen ich schrecklich deprimiert
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