Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
mich an den Prozess erinnerte, der hinter mir lag. Endlich war das alles vorbei.
Es war eine Zeit der Befreiung, des Aufatmens, und tatsächlich dachte ich überhaupt nicht mehr an meinen Vater, was völlig neu für mich war. So verlebte ich einen herrlichen katalanischen Sommer, doch irgendwann wurde es Herbst, mir ging das Geld aus und auch die Ideen, das Wetter war auch nicht mehr so toll, und schließlich fuhr ich wieder nach Hause.
Da saß ich nun in meiner Wohnung, ging wieder zur Abendschule und tagsüber arbeitete ich, denn das war mir wichtig.
Und nun konnte ich endlich etwas nachholen: Ich wollte unbedingt in den Iran fahren und Ramesh besuchen. Damals hatte man mich in London abgefangen, doch inzwischen war ich volljährig, hatte meinen Schulabschluss und konnte tun und lassen, was ich wollte. Wieder sparte ich auf das Ticket. Zu Weihnachten wünschte ich mir nichts anderes, als Beiträge dazu. Und als ich nach Holland zu Ma und Pa fuhr, um dort wie früher Weihnachten zu feiern, hatte ich den Flug bereits gebucht. Gleich nach den Feiertagen sollte es losgehen.
Vielleicht war es ein Fehler zu glauben, man könne dort wieder anknüpfen, wo man als Kind einmal glückliche Tage verlebt hat. Für einen Abend, am 24. Dezember 1999, wollten wir wieder so tun, als sei die Welt heil. Doch das war sie nicht. Sie war es nie gewesen, und jetzt wurde überdeutlich, dass wir nicht mehr vollständig waren. Mourad fehlte. Und mein Vater, der sich bei Ma und Pa immer vorbildlich benommen hatte und Pa als Familienoberhaupt für diesen Tag voll akzeptiert hatte. Bei Ma war es Brauch, dass sie für jeden Gast einen Teller mit seinen Initialen gestaltete, und nun sagte sie: »Wie schade! Heute fehlen zwei Namen.« Und schon waren mein Vater und Mourad unsichtbar wieder präsent.
Ich fühlte eine enorme Traurigkeit in mir aufsteigen. Ma hatte wieder einmal alles perfekt vorbereitet. Der Baum war wunderschön, Ma hatte wie wild Plätzchen und Stollen gebacken, ein herrliches Feuer prasselte im Kamin, aus den Lautsprechern erklang klassische Musik, der Tisch war festlich gedeckt, und wie immer an Heiligabend gab es leckeren Kartoffelsalat und Würstchen. Ich saß mit den anderen am Tisch, schaute in die Runde, die nach Hamids Fernbleiben durch Ute und ihre Lebensgefährtin ergänzt war, und begriff: Eigentlich hatte ich hier überhaupt nichts verloren. Meine Schwester Melissa war immerhin Elkes Kind, war die richtige Enkeltochter von Ma und Pa, doch ich war im Grunde genommen nichts weiter als ein Kuckuck, der im fremden Nest saß, ein Überbleibsel aus Elkes geschiedener Ehe, eine Erinnerung für die anderen, und zwar keine angenehme. Zum ersten und nicht zum letzten Mal war mir meine große physische Ähnlichkeit mit meinem Vater unangenehm. Musste ich nicht jeden, der mich ansah, an Hamid erinnern, von dem es zwei Seiten gab, eine gute und eine böse? Die gute vermisste man, und die Erinnerung an die böse Seite trübte die Stimmung. In meiner überempfindlichen Gefühlslage, in die ich mehr und mehr geriet, glaubte ich immer wieder kleine Nadelspitzen und Anspielungen in diese Richtung zu hören: dass ich eigentlich gar nicht dazugehörte.
Weihnachten ist immer ein spezielles Fest, wenn man dem Kindesalter entwächst, umso mehr mit unserer Familiengeschichte. Wehmut machte sich breit, vor allem bei Ma. Und doch bemühten sich alle um Fröhlichkeit.
Mitten während des Essens geriet ich in einen sehr seltsamen Zustand. Die klassische Musik, das Klappern des Bestecks auf den Tellern, die Kaugeräusche, das Prasseln des Kaminfeuers – auf einmal konnte ich das alles nicht mehr ertragen und musste weinen. Und aus dem Weinen wurde ein unbezähmbares Schluchzen.
»O nein«, sagte Ma, »das schöne Weihnachten!«
Immer wieder sagte sie diesen Satz, und mir wurde klar, dass ich allen das Fest versaute mit meinem Geheule, das überhaupt nicht ins Programm passte, genauso wenig wie ich selbst.
»Das schöne Weihnachten!«
Ich hatte alles verdorben. Und dabei hatte ich mich doch auch so sehr auf dieses Weihnachtsfest gefreut! Vielleicht war ich die Einzige, die begriff, dass es einfach nicht möglich ist zurückzuholen, was einmal war. Festliche Stimmung kann man nun mal nicht konservieren und zusammen mit dem Baumschmuck und den Strohsternen in Schachteln verpacken und erwarten, dass sie alle Jahre wieder daraus aufersteht, frisch und unverbraucht wie beim allerersten Mal.
Nein, es war kein schönes Weihnachten, weil
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