Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
war. Wenn ich zum Beispiel kein Geld hatte und Zitronenteepulver löffelte oder mir allenfalls Nudeln mit Ketchup leisten konnte. Mein Vater hatte mir immer prophezeit, dass ich in der Gosse landen würde, vor allem während des Prozesses hatte er das immer wiederholt. Und nun saß ich in meiner kalten, klammen Wohnung, und je nachdem, wie schlimm es mir ging, dachte ich: »Ja, er hat wohl recht«, oder: »Nein! Ich will nicht, dass er recht behält.«
Ich kannte mich damals mit den Berliner Gepflogenheiten überhaupt nicht aus, wusste nicht einmal, dass es einen Unterschied gibt zwischen Kalt- und Warmmiete. Schließlich kam die kalte Jahreszeit, und ich kämpfte mit meinen Öfen. Irgendwann schickte mir die Hausverwalterin einen bösen Brief, dass ich doch endlich mal die Kaution bezahlen sollte.
Ich rief sie an und sagte: »Wofür bitte soll ich Kaution bezahlen, komm doch mal vorbei und sieh dir an, in welchem Loch ich hause.«
Das tat sie dann auch, und obwohl sie zunächst ziemlich mürrisch war, nach dem Motto: »Kommt aus’m Westen, kennt den Unterschied zwischen Warm- und Kaltmiete nicht und kann noch nicht mal die Öfen bedienen!«, siegte irgendwie doch ihre Barmherzigkeit, als sie bei mir in der Wohnung stand und sich umsah.
»Nee, du«, sagte sie schließlich. »Du brauchst echt was anderes. Ich muss mal sehen, was ich machen kann.«
Mein Soziales Jahr machte ich in einem Café, in dem es Therapieangebote für ehemalige Drogenabhängige gab. Ich selbst war seit meinem Aufenthalt in der Psychiatrie vollkommen drogenfrei und fand es gut, mich hier zu engagieren. Ich sorgte dafür, dass die Leute ein ordentliches Frühstück bekamen, machte Kaffee, kochte Yogi-Tee.
Dennoch waren der erste Herbst und Winter in Berlin ein echter Schock für mich. Schließlich kam ich aus dem herzlichen Rheinland und war mitten in einer Stadt gelandet, in der mich die Kellnerin anmotzte, wenn ich nicht sofort wusste, was ich wollte: »Weeste endlich, wat de willst? Wattt?! Ham wa nüscht!«
Ich erinnere mich noch gut an einen verregneten, grauen Novembertag, an dem ich ganz allein auf der Landsberger Allee in der Nähe der Haltestelle stehe. An mir geht eine Frau mit aufgespanntem Regenschirm vorüber, und mit dem bleibt sie in meinem Haar hängen. Statt sich zu entschuldigen und vorsichtig ihren Schirm aus meinen Locken zu befreien, zerrt, zieht und reißt sie daran, während sie schimpft: »Pass doch uff, wo de rumstehst!«
Ja, auch das war Berlin. Menschen, die aneinander vorüberhetzten. Passanten, die einen nicht wahrnahmen. Und an die berühmte Berliner Schnauze musste ich mich auch erst gewöhnen.
Hinzu kam die bittere Erkenntnis, dass ich in Viersen bei Elke kein warmes Zuhause mehr hatte, in das ich immer mal wieder kurz zurückkehren konnte, um mich innerlich und äußerlich aufzuwärmen. Elke wohnte inzwischen bei Dieter, den sie auch irgendwann heiratete, und schon von meinem ersten Besuch an hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr willkommen war. Das zeigte sich zum Beispiel an der lieblosen Schlafstatt, die mir irgendwo hingeworfen wurde, obwohl es genügend Platz in dem großen Haus gab und ich gut irgendwo ein eigenes Bett und sogar ein Zimmer hätte bekommen können. Ich wurde nicht als Gast behandelt, auch nicht als jemand, der dazugehört, sondern fühlte mich mehr und mehr als Eindringling. Und eigentlich war ich das auch.
Nach jenem letzten Weihnachten in Holland verbrachte ich dieses Fest noch ein einziges Mal gemeinsam mit Elke. Mein Zug kam erst am Abend an, und keiner holte mich ab. Als ich am Bahnhof von Mönchengladbach ausstieg, überfiel mich wieder die alte Angst, ich könnte jemandem aus meiner Familie in die Hände laufen. Ich hatte kein Geld für ein Taxi, und so machte ich mich zu Fuß auf den Weg, bis ich endlich gegen 20 Uhr das Haus erreichte. Da hatten sie bereits gegessen, und die Geschenke waren auch schon alle aufgerissen. Niemand wartete auf mich, niemand erwartete mich. Niemand freute sich, weil ich kam, niemand brauchte mich. Es gab keinen Menschen auf der ganzen Welt, den es kümmerte, was mit mir geschah. Diese Erkenntnis war so schlimm, dass ich sie fast nicht ertragen konnte.
Doch auf den Winter folgte ein Frühjahr, so prächtig, wie ich es nur in Berlin erlebte. Da gab es dann Momente, in denen ich im Sonnenschein auf meinem Fahrrad durch die Stadt fuhr und mich so wunderbar frei fühlte wie nie zuvor und am liebsten die Arme ausgebreitet hätte, wenn es mich
Weitere Kostenlose Bücher