Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
erste Tournee nach Sankt Petersburg. Danach kam Griechenland. Wir nahmen jedes Angebot an, manchmal gab es mehr Geld und manchmal weniger, wir sahen es als Erfahrung, und ich fühlte mich lebendig und ausgefüllt. Alles, was ich mir jemals unter einem Leben in Freiheit vorgestellt hatte, wurde nun von der Realität übertroffen. Und durch einen Auftritt im Lokalradio geriet ich an einen Reporter, der mein Talent zum Erzählen entdeckte.
Natürlich überfielen mich auch in dieser Zeit immer wieder die Gespenster der Vergangenheit, dann stürzte ich in ein dunkles Loch, und oft war es mühsam, mich daraus wieder hochzuarbeiten. Auch der tägliche Überlebenskampf kostete mich viel Kraft. Was die Musik noch nicht einspielte, deckte ich mit kleinen Nebenjobs ab, arbeitete in Cafés und Second-Hand-Shops, organisierte auch Kulturveranstaltungen. Ich wollte frei sein für die Musik, fürs Komponieren und Texten und für die Arbeit mit der Band, und darum war diese Lösung die beste.
Während unserer Auftritte lernte ich eines Tages den Moderator einer Musiksendung kennen, und der brachte mich zum Sender des rbb, Rundfunk Berlin-Brandenburg. Er zeigte mir in Crashkursen, wie man selbst Beiträge produziert, und hier konnte ich mein Produktionstalent, mein Gespür für spannende Themen, Geschichten und Sound optimal einsetzen.
Nachdem ich ein halbes Jahr beim rbb gearbeitet hatte, machte ich eine Porträt-Reihe. In dieser Reihe stellte ich verschiedene Menschen vor und kombinierte ihre Interviews mit Soundcollagen. Dafür gewann ich einen wichtigen Medienpreis und wurde für mehrere andere nominiert, was mir eine aufregende Zeit mit vielen Reisen bescherte. Ich werde nie vergessen, wie ich eines späten Abends zusammen mit Frau Maischberger und Herrn Elstner im Schloss von Ljubljana saß, und auf einmal kommt dieser Tatortkommissar vorbei, zieht mich auf die Bühne und singt mit mir »Knocking on heaven’s door«.
Viele spannende Dinge sind passiert. Eine wichtige Begegnung für mich war die im Jahr 2004 mit dem Filmregisseur Fatih Akin, mit dem ich viele Gespräche führte über meine Kultur, die ja, ob ich es will oder nicht, von dem arabisch-türkischen Hintergrund meiner Familie geprägt ist. Ich nahm bei dem Casting für die Hauptrolle im Film Gegen die Wand in Hamburg teil und kam unter die letzten drei Bewerberinnen. Ich konnte mich mit der Geschichte der Sibel nur zu gut identifizieren, und die Beschäftigung mit dem Thema bedeutete für mich den Anfang meiner Versöhnung mit meiner Kultur. Ich war damals aber noch zu jung und unerfahren, um diese Rolle ausfüllen zu können.
Immer klarer wurde mir allerdings, dass ich meine Geschichte eines Tages aufschreiben musste, sei es als Buch oder als Filmdrehbuch. Wieder begann ich, viele Erinnerungen niederzuschreiben. Ich führte das Leben, das ich mir immer gewünscht hatte. Jetzt hatte ich auch die Freiheit, mich mit meiner Geschichte zu befassen.
Ja, auf einmal war ich das, was ich immer hatte werden wollen, und wovon mein Vater gesagt hatte, dass ich das nicht werden dürfe. Ich produzierte schöne Radiosendungen und ertappte mich bei dem Gedanken, dass mein Vater stolz auf mich wäre, wenn er das hören könnte. Dass er vielleicht auch gerne so etwas gemacht hätte. Und dann dachte ich wieder, dass er das gar nicht glauben würde, wenn es ihm jemand erzählte.
Irgendwann wurde mir klar, dass es nicht mehr wichtig ist, was er denkt. Doch das kam erst viel später.
23
Abschied von Elke
A ls ich im Frühjahr 2000 von Mönchengladbach nach Berlin zog, brachte mich Elke zum Zug. Alles schien wie immer. Ich war fröhlich und aufgekratzt, denn jetzt würde etwas Neues in meinem Leben beginnen. Ich stand bereits in der Zugtür, als ich mich noch einmal umdrehte und wir uns in die Augen sahen. Und da war es mir, als nähme sie endgültig Abschied. Es fühlte sich an wie ein kleiner Tod, im Bruchteil einer Sekunde zog eine ganze Zeitreise an mir vorüber, alles, was wir gemeinsam erlebt hatten, und ich denke, es ging ihr ebenso.
»Moment mal«, wollte ich sagen. »Ich fahr doch nur mal eben nach Berlin. Ich will doch weiterhin nach Hause kommen und mich an deinen Tisch setzen, in meinem Kinderzimmer wohnen …« Aber es war ganz deutlich: Elke entließ mich aus ihrer Obhut. »Von nun an«, schien ihr Blick zu sagen, »bin ich nicht mehr für dich verantwortlich.«
Es war ein kleiner Schock für mich; noch war ich nicht darauf vorbereitet, ganz alleine in der Welt zu
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