Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
stehen. Aber auch wenn ich diesen Augenblick schnell wieder verdrängte und die Botschaft, die in ihm verborgen war, nicht wahrhaben wollte, so war es tatsächlich nie wieder wie zuvor. Nie wieder gab es »zu Hause«, wie ich Elkes neues Haus immer noch im Stillen nannte, wo sie mit ihrem zweiten Mann Dieter nun lebte, ein warmes Essen für mich, wenn ich kam, nicht mal an Weihnachten.
Damals begann ich, über mein Verhältnis zu Elke nachzudenken, mich zu erinnern, wie es in meiner Kindheit gewesen war. Zum Beispiel die Szene im R4 nach Kornelias Tod, wo ich schon damals gespürt hatte, dass sie meinen Vater wollte und mich nur in Kauf nahm. Jene, als Mourad wissen wollte, ob sie uns alle gleich lieb hätte. Ich erinnerte mich an das Gefühl, wenn sie mir morgens beim Anorak-Anziehen das Kinn in den Reißverschluss klemmte, ihre Ungeduld und Morgenmuffligkeit, wenn sie mich vor der Arbeit noch rasch mit dem Fahrrad zum Kindergarten brachte. Die vielen Male, wenn ich mit ihr kuscheln wollte und sie mich abwehrte. Und ich erinnerte mich an einen Abend, als ich im Alter von vier oder fünf Jahren mit Bauchschmerzen im Bett lag.
Kornelia hatte immer Babysprache mit mir gesprochen. Darum sagte ich solche Sachen wie »Wauwau« zu Hund und »aua Bauch«, wenn ich Bauchschmerzen hatte. Kornelia hatte stets ein Hausmittel, wenn es mir irgendwo wehtat, und jede Menge Trost.
Also rief ich, nachdem Elke meine neue Mutter geworden war: »Mama! Aua Bauch!«
»Das heißt nicht ›aua Bauch‹«, wies mich Elke zurecht. »Das heißt: Ich habe Bauchschmerzen.«
Das stimmte. Aber außer dieser Belehrung gab es nichts für mich: Keine Wärmflasche, keinen Kamillentee, kein Bauchstreicheln. Ich lag in meinem Bettchen und es hallte in mir nach: Das heißt nicht aua Bauch, das heißt: Ich habe Bauchschmerzen.
Ich war nun selbst eine erwachsene Frau, sogar etwas älter als Elke damals gewesen war, als sie meine dritte Mutter wurde. Mit Anfang zwanzig hatte sie sich in einen Mann verliebt und als Dreingabe eine vierjährige Tochter bekommen, wenige Jahre später sogar noch einen Sohn, von dessen Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte. Sie hat all diese Aufgaben mutig und ohne Wenn und Aber übernommen, und ich nehme an, sie tat ihr Bestes. Von Anfang an behandelte sie mich allerdings nicht so richtig als Kind, sondern wie eine Freundin, eine Vertraute. Es galt damals wahrscheinlich sogar als fortschrittliche und aufgeschlossene Erziehungsmethode, das Kind als ebenbürtig anzusehen. Und doch habe ich immer darunter gelitten.
Ich bekam alles von Elke, nur nicht eine Mutter. Und dabei war es doch genau das, wonach ich mich mein Leben lang so sehr sehnte.
Elke tat alles, um sich in die Familie und Kultur ihres Mannes zu integrieren. Sie konvertierte zum Islam, las Buch um Buch, um die fremde Kultur zu verstehen, ließ sich zeigen, wie man die Gebete vollzieht, die rituellen Waschungen. Sie lernte die Lieblingsgerichte meines Vaters kochen, und auf unseren Reisen besuchten wir jede Moschee zwischen Istanbul und Damaskus, und das nicht meines Vaters wegen. Sie setzte ihre eigenen Interessen hinter die ihres Mannes, war hundertprozentig bezogen auf ihn und nahm für ihn sogar in Kauf, neun Jahre lang ihre Schwester, mit der sie sich gut verstand, nicht zu sehen. Im Grunde ist die Geschichte unserer Familie die eines doppelten Scheiterns: So wie mein Vater daran scheiterte, das Leben eines Deutschen, der er auf dem Papier längst war, wirklich zu leben, so scheiterte Elke in ihrem Versuch, sich mitten in Deutschland in eine muslimische Familie zu integrieren. Und dazwischen ich, Kind orientalischer Eltern mit der Erziehung und Denkweise einer Deutschen, die mit großer Klarheit schon früh dies alles erkennen konnte, deren Bedürfnisse jedoch überhaupt keine Rolle spielten.
Damals, als ich frisch nach Berlin gezogen war und in dieser entsetzlichen Wohnung lebte, kam Elke einmal zu Besuch. Dass ich eventuell Hilfe gebrauchen könnte, sah sie nicht oder wollte nicht sehen. Sie schaute sich nur in meiner Bruchbude um und entschied: »Hier schlafe ich nicht.« Ich kochte Tee, wir setzten uns hin und redeten ein bisschen. Dann zog sie weiter. Sie fragte nicht: »Wie geht es dir?«, auch wenn es offensichtlich war, dass es mir nicht gerade prächtig ging. Ich hatte vorne und hinten kein Geld, doch sie kam nicht einmal auf die mütterliche Idee, mich wenigstens ins Café um die Ecke auf eine Mahlzeit einzuladen.
Ich habe ihr diese
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