Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
gleichgültige Haltung lange übel genommen. Habe mich an ihr abgearbeitet, Briefe geschrieben, vor allem, als ich endlich eine Therapie beginnen konnte und nach und nach all den Schrecken aufarbeitete, der meine Kindheit geprägt hatte. Sie war dabei gewesen, und ich hatte das drängende Bedürfnis, mich mit ihr darüber auszutauschen, wollte von ihr hören, wie sie diese oder jene Situation erlebt hatte. Schließlich hatte sie all die Jahre meinen Vater gedeckt. Wenn Außenstehende fragten, warum sie mir während der Exzesse meines Vaters nie zur Hilfe kam, verteidigte ich sie stets, sagte, dass sie mir nicht helfen konnte, dass jeder Versuch zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Die wenigen Male, als sie es versucht hatte, führten nur dazu, dass auch sie misshandelt wurde.
Auch Kornelia hatte mich vor der Gewalt meines Vaters nicht schützen können, doch sie hielt wenigstens im Hintergrund kühlendes Eis, Salben und Verbände bereit, tröstete mich und Mark, wenn alles vorüber war. Elke tat das nicht. Sie ließ mich oft genug im Stich, und auch darüber wollte ich gerne mit ihr reden. Warum sie so lange ausgeharrt hatte bei einem Mann, der sie selbst und uns Kinder tyrannisierte und quälte; warum sie nicht früh genug die Konsequenzen gezogen hatte, wenn schon nicht für sich selbst, dann uns Kindern zuliebe. Auch ihre leibliche Tochter hatte schließlich darunter gelitten. Dabei ging es mir nicht darum, ihr Vorwürfe zu machen, sondern in erster Linie wollte ich endlich verstehen, was eigentlich passiert war.
Aber Elke hatte irgendwann keine Lust mehr, über all das zu sprechen. Im Grunde kann ich das heute auch verstehen. Und doch: Wenn es für mich überlebensnotwendig war, diese Dinge alle noch einmal anzuschauen, wieso war ihr das dann so gleichgültig? War sie mir nicht wenigstens diese Gespräche schuldig, nach allem, was geschehen war?
»Jedes Mal, wenn Meral kommt«, sagte ihr neuer Mann eines Tages, »dann stellt sie diesen Eimer Scheiße auf den Tisch.« Und Elke erzählte mir das prompt weiter.
»Ja, aber«, wollte ich schreien, »diesen Eimer hast doch auch du vollgemacht!« Doch ich schwieg.
Noch immer betrachtete ich Elke als meine Mutter, die sie niemals gewesen war. Uns verband eine Schicksalsgemeinschaft, kein Mutter-Tochter-Verhältnis. Doch es dauerte lange, bis ich das endlich begriff. Zuerst brauchte ich nochmal einen heftigen Schlag ins Gesicht, bevor auch ich Elke endlich aus meinem Leben entlassen konnte, so wie sie es bereits bei meinem Weggang nach Berlin mit mir getan hatte.
Es war in meiner Anfangszeit in Berlin, ich steckte in einer tiefen Depression. Der einzige Lichtblick, so schien mir, war mein Plan, den Weg einer professionellen Musikerin einzuschlagen. Ich wollte mit meinen Songs irgendwann Geld verdienen können. Wir hatten begonnen, mit unserer neuen Band zu arbeiten. Und jemand hatte mir erklärt, dass ich mich bei der GEMA anmelden müsste, damit meine Rechte an meiner Musik gesichert seien. Doch dafür brauchte ich Geld: 50 Euro, die ich nicht hatte.
Es war spät am Abend, draußen regnete es in Strömen, und in mir war alles wund und weh. Da raffte ich mich auf und rief Elke an. Ich erzählte ihr von meinem Plan und bat sie, ob sie mir die 50 Euro vorfinanzieren könnte. Noch nie hatte ich sie um Geld gebeten, weder für meine Fahrkarten »nach Hause«, noch für ein bisschen Essenszuschuss. Wenn ich bei ihr anrief mit meiner Prepaid-Karte, kam sie nie auf die Idee, zu sagen: »Hör mal, ich rufe dich zurück.« Das alles war in Ordnung gewesen. Doch jetzt brauchte ich wirklich ihre Hilfe. In meiner deprimierten Stimmung schienen mir diese 50 Euro der Schlüssel zu meinem Glück, das Ticket zu einem besseren Leben – und tatsächlich sollte sich später erweisen, dass ich damit recht hatte. Doch Elke wurde ärgerlich.
»Du bist wie dein Vater«, schimpfte sie. »Der wollte auch immer nur mein Geld. Mach doch mal was Vernünftiges! Du musst endlich lernen, selbst für dich zu sorgen.«
Der Vergleich mit meinem Vater traf mich an meinem wundesten Punkt. Sie wusste genau, wie sehr mich das verletzte; schon lange litt ich darunter, dass ich äußerlich fast sein Ebenbild bin. Außerdem war ihr Vorwurf ungerecht. Ich versuchte ihr zu erklären, wie wichtig für mich diese GEMA -Anmeldung war, dass daran quasi meine letzten Hoffnungen hingen, denn an diesem düsteren Abend erschien es mir tatsächlich so.
»Dann häng dich doch auf!«, schrie sie ins Telefon.
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