Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Tag bleiben«, berichtete er weiter, »aber am nächsten Tag kam ich wieder.«
»Und«, wollte ich wissen, »wie war es?«
Mourad lächelte verlegen, wie es seine Art ist, rieb sich das Kinn.
»Eine Mischung aus allem«, sagte er, »ein undefinierbarer Gefühlsknäuel. Sie weinte. Wir heulten, glaube ich, alle …«
Er schwieg. Trank seinen Tee aus. Ich schenkte ihm nach.
»Und jetzt?«, wollte ich wissen. »Geht es dir jetzt besser als vorher?«
Mourad sah aus dem Fenster. Dann auf seinen Tee.
»Nein«, sagte er schließlich. »Irgendwie schon, aber eigentlich auch nicht. Das tut alles schon verdammt weh …«
Nach seiner Rückkehr beschloss Mourad, wieder zur Schule zu gehen und seinen Realschulabschluss nachzumachen. Mit der Familie unseres Vaters hat er immer Kontakt gehalten, doch er ließ sich nicht mehr von ihnen vereinnahmen.
Mein Bruder und ich sind die Einzigen, die man nicht einsortieren kann. Wir gehören nicht hierhin und auch nicht dorthin – wir sind einzeln. Während unserer ersten Wiederbegegnungen und in den vielen Gesprächen, die wir seither führten, haben wir beide das begriffen. Und uns daran erinnert, dass es immer schon so gewesen ist. Uns beide hat man in jungen Jahren verpflanzt, und das führte dazu, dass wir von beiden Welten etwas in uns tragen: von der Mutterwelt und der Vaterwelt, von dem Erbe der syrischen Nomadenvölker und der Welt des deutschen Rheinlands. Wir haben uns das nicht ausgesucht, und doch hat es uns geprägt und verbindet uns bis heute.
Unsere Mutter hatte es Mourad damals mitgegeben: Wir gehörten zusammen, für immer. Wir sollten uns nie aus den Augen verlieren, sondern füreinander da sein, einander an den Händen halten, auch wenn um uns herum die Welt unterging. Gerade dann. Und irgendwie tat sie es ja auch.
Mit meiner Kontaktaufnahme zu Mourad stellte sich für mich natürlich die Frage nach unserer kleinen Schwester. Auch sie sah ich wieder, aber eigentlich nur, weil Mourad sie hin und wieder »zwang«, sich mit mir zu treffen. Aus freien Stücken hätte sie das nie getan, denn ich war in ihren Augen die Verfemte, die Verräterin, das abschreckende Beispiel. Melissa war durch die Gehirnwäsche meines Vaters gegangen, und dies waren die Folgen.
Über Melissa habe ich bislang nicht viel erzählt; es ist nicht einfach, mein Verhältnis zu meiner Halbschwester zu beschreiben. Viele Jahre lang hatte Meli alles, und ich hatte nichts – so empfand ich das damals. Ich war für sie das, was sie – so mein Vater – nie werden sollte, und darum wollte sie es natürlich auch nicht. Und sie war all das, was ich nie war.
»Du kennst mich doch«, sagte sie eines Abends, als wir drei Geschwister uns trafen. »Ich schwimme immer mit dem Strom.«
Das war sehr ehrlich von ihr. Aber genau das verletzte mich ja immer so. Es ist einfacher für sie, mit dem Strom zu schwimmen. Und da sich die Mehrheit der Familie von mir abgewandt hatte, hielt auch sie nicht zu mir.
Ich bin anders als sie, für mich wäre es nicht so leicht gewesen, einfach meine Schwester aufzugeben, nur weil die Familie es so will. Mich enttäuschte ihr Opportunismus; es nervte mich, dass sie kein Rückgrat hatte. Schließlich hatte auch ich sie, wenn man es mir erlaubte, in den Schlaf gesungen, sie vom Kindergarten abgeholt, ihr zu essen und zu trinken gegeben. Ihre allerersten Schritte hatte sie an meiner Hand gemacht. Und doch hat sie mich verleugnet, und das in meinen Augen ohne echten Grund. Es hätte ihr nichts an Rückhalt in der Familie genommen, wenn sie mich hin und wieder verteidigt oder in Schutz genommen hätte.
Immer war sie Papas und Mamas Liebling, und ich gebe zu, dass ich oft eifersüchtig auf sie war. Dabei war Meli alles andere als die folgsame Tochter, die sie immer spielte. Sie hat nichts von dem gelebt, was mein Vater von ihr erwartete, und nichts ausgelassen, weswegen ich verurteilt wurde.
Damals dachte ich oft: »Ich bin allein. Und Meli hat alles. Ich wurde der Wahrheit wegen verstoßen, und Meli der Lüge wegen geschützt.« Daran hatte auch Elke ihren Teil. Ich konnte nicht verstehen, warum sie zuließ, dass diese Kluft zwischen mir und meinen Geschwistern entstehen konnte. Damals dachte ich während meiner schwärzesten Stunden: »Wenn ich mich eines Tages aufhänge, dann wegen dieser Ungerechtigkeit, wegen dieser Härte und Kälte. Weil in unserer Familie jeder immer nur an sich denkt und jeder sich selbst der Nächste ist. Weil sie es riskieren, dass ich auf der
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