Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
»Du langweilst mich mit deinem immer gleichen Gejammer. Werd doch mal erwachsen!«
Und damit legte sie auf.
Das traf mich hart. Denn dass ich immer wieder Schwierigkeiten hatte, im Leben klarzukommen, daran trug sie doch ebenfalls Schuld, wie ich fand. Dass sie da nie auf die Idee kam, mir irgendwie beizustehen, mal einen Therapieplatz klarzumachen, einfach nur einen Schrank aufzuhängen nach meinem Umzug oder jetzt 50 Euro für die Anmeldung bei der GEMA beizusteuern – das enttäuschte mich tief. Ich wusste genau, dass sie eher für einen Esel in Afghanistan spenden würde, als mir zu helfen.
Ich schrieb ihr einen bitterbösen Brief, in dem ich quasi »Schluss mit ihr machte«. Ich schrieb, dass ich nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollte, und ich meinte es so. Ein paar Monate später kam eine Karte von ihr, auf der stand: »Liebe Meral, lass uns eine Friedenspfeife rauchen. Was gesagt wurde, ist gesagt, man kann die Zeit nicht zurückdrehen.«
Früher wäre ich mit fliegenden Fahnen zu ihr zurückgekehrt, so groß war mein Bedürfnis nach Familie und Harmonie. Dieses Mal aber hatte ich begriffen, dass mir das nicht guttun würde. Ja, damals betrachtete ich eine Versöhnung als Zeitverschwendung.
Es gab in dieser Zeit Tage und Wochen, da hielt ich die Einsamkeit fast nicht aus. Geburtstage und Weihnachten waren besonders schlimme Termine. Mein Bruder sagte später zu mir: »Du warst wie dieses Küken in dem Cartoon, das sein Leben lang dieser Ente hinterherläuft, mit den Eierschalen am Kopf. Dabei ist es doch ein Huhn.« Elke war nun einmal nicht meine Mutter, war es nie gewesen, das musste ich endlich begreifen. Und so löste ich mich ganz allmählich auch innerlich von ihr. Dass es mir irgendwann tatsächlich gelungen war, merkte ich, als es mir egal geworden war und meine Wut auf sie verrauchte.
Nach jenem Telefonat erlebte ich noch eine heftige emotionale Talfahrt; dann lieh ich mir die besagten 50 Euro von einem Bandkollegen und meldete mich bei der GEMA an. Mit unserer Band ging es aufwärts, und ich verdiente Geld durch meine Musik – dank meiner GEMA -Mitgliedschaft. Bald danach bekam ich den Job beim Radio und zahlte die 50 Euro meinem Kollegen sofort zurück und kaufte mir ein eigenes Klavier. Und es erwies sich, dass ich recht gehabt hatte, dass es kein Hirngespinst gewesen war in jener Nacht, als ich beschlossen hatte, den Weg einer Musikerin zu gehen.
Heute sehe ich das alles viel entspannter, trage keinen Groll mehr in mir. Ich weiß, dass ich unter anderen Umständen nie etwas mit Elke zu schaffen gehabt hätte, wenn mein Vater sie nicht zufällig geheiratet hätte. Letztendlich hat sie mir durch ihre ablehnende Art dabei geholfen, meine eigenen Kräfte und Stärken zu mobilisieren und es alleine zu schaffen. Heute muss ich niemandem dankbar sein, nur meinen Freunden und Kollegen, die zu mir hielten und an mich glaubten, mich als die nehmen, die ich war und bin. Ihnen bin ich dankbar – und mir selbst.
24
»Schöne Grüße von deiner Mutter!«
I m Jahr 2003 gab es viele Tage, in denen mein Himmel voller Fragezeichen hing. Damals arbeitete ich in einem Suppenladen, machte ein Praktikum im Tonstudio und hatte die Band. Und während ich all das tat, trug ich eine undefinierbare, riesengroße Sehnsucht in mir: nach Antworten, nach irgendeinem Halt und Zuspruch. Denn seit ich verstanden hatte, dass Elkes Familie nicht die meine war, fühlte ich mich wie eine Seiltänzerin ohne Netz und doppelten Boden.
Oft dachte ich an meinen Bruder, mit dem ich all die Jahre keinen Kontakt mehr gehabt hatte und der mir damals während des Prozesses hatte ausrichten lassen, dass er den auch nicht mehr wünschte. Dennoch wollte ich schon lange zwischen uns einige Dinge klarstellen, und oft dachte ich darüber nach, ihn anzurufen, auch wenn es das einzige Mal wäre, dass wir wieder miteinander sprachen, auch wenn er danach bei der Entscheidung bleiben sollte, keinen Kontakt mit mir zu haben. Ich wusste, dass das, was ich ihm sagen wollte, dennoch etwas bei ihm bewirken würde, dass er nach einem Gespräch die Dinge zwangsläufig anders sehen musste. »Und wer weiß«, dachte ich, »vielleicht gerät ja auch bei ihm dann etwas in Bewegung.«
Also rief ich bei ihm an.
»Hallo«, sagte ich, »hier ist Meral.« Und ich betonte, wie es meine deutschen Freunde taten, meinen Namen auf der ersten Silbe. Gespannt lauschte ich in die Leitung, wie mein Bruder auf diesen Überfall reagieren würde.
»Wer?«,
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