Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
fragte Mourad. »Meeeral oder Meralll?« Und er betonte meinen Namen so, wie er in unserer Sprache klingen muss, mit der Betonung auf der zweiten Silbe und einem rollenden R in der Mitte.
Wir lachten. Und damit war das Eis erst mal gebrochen. Ich war überrascht; Mourad klang so erwachsen, so ruhig und ausgeglichen. Ich rechnete nach: Sieben Jahre waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Die Zeit der Pubertät, die damals unsere Emotionen durcheinandergewirbelt hatte, war vorüber, und ich begriff, dass sie auch bei uns eine echte Ausnahmesituation gewesen war. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich war. Ich hatte immer gehofft, dass wir uns am Ende des Tunnels irgendwann im Erwachsenenleben wieder begegnen würden, und das war nun tatsächlich möglich. Ich hatte wieder einen Bruder, ich stand nicht mehr so allein in der Welt.
Und ich wollte Mourad erinnern. An unseren Zusammenhalt, unsere unverbrüchliche Liebe. An das, was er gesehen und selbst erlebt hatte, auch wenn er das alles während der Zeit der Gerichtsverhandlung angeblich vergessen hatte. Vieles gab es zu erzählen, so manche Lücke aufzuarbeiten, Bilder wachzurufen, die er verdrängt hatte und die mit meiner Rückkehr in sein Leben wieder in sein Bewusstsein traten. Mir selbst ging es auch um eine Art »Realitätscheck«, ein Abgleichen der Erinnerungen, denn wie konnte ich mir sicher sein, dass sich das alles bis in jede Einzelheit so zugetragen hatte, wenn da niemand war, der es ebenfalls erlebt hatte und mir heute Rückmeldung geben konnte? Es ist unendlich schwierig und verwirrend, der oder die Einzige zu sein, der sich angeblich erinnern kann.
Ich lernte, dass mein Bruder auf der Suche nach Anerkennung den falschen Leittieren hinterhergelaufen war. So wie ich Elke in meinem übergroßen Wunsch nach Zugehörigkeit hinterherlief, nach ihr rief und sie zu greifen versuchte, wenn ich mich wieder mal mittel- und hoffnungslos fühlte oder einfach nur einen Rat brauchte. Hilfe, meinen Verstand wiederzufinden in den Phasen meiner angelernten Todessehnsucht.
Ebenso war Mourad meinem Vater und seinen Brüdern hinterhergelaufen; auch er wollte irgendwo dazugehören. Dennoch ist er bis heute keiner von denen geworden.
Er erzählte mir, dass er die Gerichtsverhandlung als beschämend empfunden hatte und einfach so tat, als könnte er sich an nichts erinnern. Tatsächlich hatte er damals seine eigenen Verletzungen vorläufig verdrängt. Er hatte noch nicht das Bewusstsein, sich zu positionieren, so sagte er, es war einfacher, die Seite zu wechseln, das war bedeutend cooler, als sich selbst ständig in der Opferrolle zu sehen.
Einmal hatte Mourad unseren Vater zum Ausgang aus dem Gefängnis abgeholt. »Da erzählte er mir«, berichtete mein Bruder, »dass er angeblich aus sicheren Quellen wisse, dass du in Hamburg gelandet seist, wo du als Prostituierte arbeitest.«
Ein Sohn, wie ihn mein Vater sich wünschte, hätte nun von selbst verstehen müssen, dass er seine Ehre wiederherstellen und mich an seiner Stelle erschießen müsste.
»Klar verstand ich, was er meinte«, sagte Mourad, »aber ich übersah diesen ›Wink‹ ganz einfach. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass er recht hatte.«
Im selben Jahr, als ich mich bei meinem Bruder nach all der Zeit wieder meldete, hatte Mourad zum ersten Mal, seit er mit fünf Jahren aus seinem Dorf verschleppt worden war, unsere Mutter wieder besucht. Auch er war auf der Suche nach seiner wahren Identität. Seine Machophase, in der er seinem Vater und seinen Onkeln nacheifern wollte, war längst vorüber. Unser Vater hatte eine neue Familie gegründet, und Mourad fühlte, dass für ihn dort kein Platz war. Im Grunde machte er ähnliche Erfahrungen wie ich mit Elke. Und nun begann er, sich an seine Ursprünge zu erinnern. An seine Mutter, an Saliha.
Verwandte der neuen Frau unseres Vaters, die ja aus derselben Gegend stammte wie unsere Mutter, halfen ihm, sie ausfindig zu machen. Er telefonierte mit Saliha, was damals gar nicht so einfach war, denn das einzige Telefon befand sich im Dorfladen. Sie mussten lange suchen, Mourads Erinnerungen waren nur bruchstückhaft.
»Es war im Frühling«, erzählte er mir mit leuchtenden Augen, »und als wir endlich das Haus gefunden hatten, in dem Saliha heute mit ihrem zweiten Mann und ihren Kindern wohnt, da lief sie mir schon entgegen.«
Ich konnte ihm ansehen, wie tief ihn dieses Wiedersehen aufgewühlt hatte.
»Ich konnte nur diesen einen
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