Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
kann mich noch gut an die Overalls erinnern, die wir trugen, denn am Tag zuvor hatten wir bei Kornelias Mutter Disney-Figuren darauf gebügelt. Es war Frühling, wir standen auf einer Wiese vor dem Eingang des Krankenhauses, und mein Vater rauchte seine Zigarette zu Ende. Schließlich trat er die Kippe mit dem Absatz aus.
»Wartet hier auf mich«, sagte er und ging ins Krankenhaus.
Inzwischen übten wir Räder zu schlagen, und wahrscheinlich kann ich mich deshalb so gut an diesen Tag erinnern, weil ich es damals zum ersten Mal schaffte – allerdings machte ich mir auch Grasflecken in meinen Overall, die nur schwer wieder rausgingen. Während wir also unten vor dem Krankenhaus Rad schlugen, brachte mein Vater der Frau, die er zwei Tage zuvor krankenhausreif geschlagen hatte, einen bunten Blumenstrauß, gerade so, als hätte sie gerade ein Kind bekommen.
Und dann kam immer öfter, wenn Kornelia arbeiten war, Elke zu Besuch. Sie war gerade zwanzig, hatte kurzes, naturblondes Haar und blaue Augen. Beim ersten Mal brachte sie Alpia-Schokoaufstrich mit, wie ich ihn noch nie zuvor gegessen hatte; käuflich, wie kleine Kinder nun mal sind, waren wir begeistert. Es war schon spät, und Mark und ich saßen mit großen, staunenden Augen am Küchentisch, wo Elke uns Brot toastete und es dick mit dieser köstlichen Schokoladencreme bestrich. Sie kam immer öfter, aber nur, wenn Kornelia nicht da war, und sie kam nicht unseretwegen.
Ich war damals viel zu klein, um wirklich zu verstehen, was vor sich ging. Aber dass Kornelia immer mehr an Kraft und Lebensenergie verlor, das spürte auch ich.
Eines Morgens steht sie nicht auf. Sie ist klatschnass geschwitzt, so als sei sie direkt vom Duschen ins Bett gekrochen, ohne sich abzutrocknen. Ihr Gesicht ist noch weißer als sonst.
»Sollen wir einen Arzt rufen, Mama?«, fragt Mark sie ängstlich.
»Nein«, sagt sie müde. »Ich will keinen Arzt. Ich will nur meine Ruhe, sonst nichts.«
Was danach geschah, das weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung setzt erst einige Tage später wieder ein. Ich sitze im Heck eines grünen R4. Mir ist kalt. Vorne sitzt mein Vater, Elke steigt gerade ein und reicht mir ein weiches, dickes Federkissen, groß genug, dass ich mich damit zudecken kann.
»Sag ihr«, sagt mein Vater leise zu Elke, »dass Kornelia tot ist.«
Elke dreht sich zu mir um und sagt: »Kornelia ist gestorben. Sie hatte eine Blutvergiftung.«
Ich friere immer noch und versuche, mich unter das weiche Kissen zu kuscheln. Meine Mama ist also tot? Was ist eine Blutvergiftung? Alles dreht sich in meinem vierjährigen Kopf.
»Überleg es dir gut«, sagt mein Vater gerade zu Elke. »Du weißt, wie das bei mir laufen muss: An erster Stelle komme ich, dann meine Familie. Und an letzter Stelle kommst du. Bist du sicher, dass du das willst?«
»Ich will es versuchen«, sagt Elke.
»Du musst sagen: Ja, ich will das«, insistiert mein Vater.
»Ja«, sagt Elke, »ich will, dass das mit uns klappt.«
Mein Vater scheint sich zu freuen. Er dreht sich zu mir um und sagt: »Küss deine neue Mutter, Meral.«
4
Mutter Nummer drei
W oran Kornelia starb – ich habe es nie wirklich herausgefunden. Damals hieß es, aus einem Mückenstich sei eine Blutvergiftung geworden. Es gab auch eine andere Version, nach der Kornelia einer Grippeepidemie oder einer Virusinfektion zum Opfer gefallen war. Vielleicht starb sie auch an gebrochenem Herzen. Denn dass ihre ohnehin fragile Gesundheit in den letzten Jahren mit meinem Vater vollends zerrüttet wurde und das letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte, aufgezehrt worden war, daran habe ich keinen Zweifel. Woran sie auch immer gestorben war, in jener Nacht im R4 erwartete mein Vater, dass ich meine »neue Mutter« küsste. Und das tat ich, wenn auch nicht aus vollem Herzen. Zu sehr beschäftigte mich der plötzliche Verlust von Kornelia, meiner Mama.
Ich fühlte bei Elke von Anfang an nicht die Zuneigung und Wärme, die Kornelia für mich gehabt hatte. Elke wollte meinen Vater, daran war kein Zweifel, und dieses kleine Wesen da hinten auf dem Rücksitz mit dem krausen Schwarzhaar, das musste sie eben mit in Kauf nehmen.
Ich aber musste nicht nur mit Kornelias Tod fertig werden. Auch mein Bruder Mark war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ich weiß nicht, ob ich nach ihm fragte – Tatsache ist, dass niemand mir sagte, wo er geblieben war.
Dann sah ich ihn eines Tages auf der Straße unter unserem Haus. Wir waren gerade umgezogen und es
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