Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Abgabe tauschte sie mit Hamid die Unterlagen. So wurde mein Vater Busfahrer. »Da lerne ich jeden Tag eine Menge Menschen kennen«, brüstete er sich vor seinen Brüdern. Doch im Grunde war er mit dieser Arbeit grenzenlos unterfordert, und seine Unzufriedenheit bekamen wir zu Hause zu spüren.
Mit Ma und Pa, meinen deutschen Großeltern, begann für mich so etwas wie eine normale Kindheit mit Dingen wie Ostereiersuchen, Ausmalbüchern, Geschichtenvorlesen. Ella meldete mich in einem Kindergarten an, der zwischen unserer Wohnung und der von Elkes Eltern lag.
Doch davor machten wir eine lange und weite Reise. Hamid wollte Elke zeigen, woher er kam, und sie war von allem restlos begeistert. Auf dieser Reise schenkte mir mein Vater mein erstes eigenes Musikinstrument – eine Trommel, eine sogenannte Derbouka, die ich mir auf einem Basar selbst aussuchen durfte. Sie hatte einen leuchtend blauen Korpus aus gebranntem Ton und war mit Ziegenhaut bespannt. Ich liebte diese Trommel sehr und bewahrte sie lange auf. Erst vor Kurzem habe ich mich schweren Herzens dazu entschlossen, sie zu entsorgen. Sie hatte bereits nach dieser ersten Reise einen feinen Riss in ihrem Korpus, zu dem im Laufe der Jahre noch viele weitere hinzukamen.
Ansonsten habe ich nur noch vage Erinnerungen an die Reise, hauptsächlich aus den Fotos genährt, die mein Vater damals machte. Wir kamen bis nach Damaskus, und Elke wollte jede einzelne Moschee von innen sehen. Meine Mutter allerdings besuchten wir nicht.
Elke war nicht der zärtliche Muttertyp, wie Kornelia es gewesen war. Sie wuschelte mir schon mal über den Kopf, aber die Anhänglichkeit, die ich ihr entgegenbrachte, war ihr meist zu viel. Ich erinnere mich noch gut, wie sehr ich mich auf den Kindergarten freute, und als wir von unserer Reise zurück waren – ich kam eine Woche später als die anderen »neuen« Kinder –, da rannte ich zu unserer Kindergärtnerin, die ich sehr mochte, und sprang sie ansatzlos einfach an. Ich schlang Arme und Beine um sie, und sie erlaubte das auch, im Gegensatz zu Elke.
Ich ging gerne hin. Nur wenn es zu Streitereien unter uns Kindern kam, waren die Erzieherinnen über meine Art und Weise schockiert, mit Konflikten umzugehen. Ich kann mich noch gut an einen Zwischenfall mit einem kleinen Jungen erinnern:
Dieser kleine Kerl schlägt mir doch tatsächlich mit einer Stange auf den Kopf. Ich bin empört.
»Du von Gott gefickte kleine Schlampe!«, brülle ich ihn an, ohne den geringsten Schimmer zu haben, was das überhaupt bedeutet. »Mein Papa bringt dich um!«
So etwas hat der Junge noch nie erlebt, augenblicklich fängt er an zu heulen. Als er sieht, dass die Kindergärtnerin zu uns herüberkommt, wirft er schnell den Stock in eine Ecke, mit dem er mich geschlagen hat.
»Was ist denn hier los?«, fragt die Erzieherin. »Meral! Was hast du eben gesagt? Ich glaube, ich traue meinen Ohren nicht.«
»Der Wichser hat mir den Stock auf meinen Kopf gehauen!«, schreie ich außer mir vor Zorn.
»Ist ja gar nicht wahr«, behauptet der Junge. »Die lügt doch!«
Das bringt mich völlig in Rage.
»Wohl! Der lügt! Das sag ich meinem Vater und der erwürgt dich, du Arsch!«
Ich fühle mich in vollem Recht. Doch da sagt die Kindergärtnerin etwas, was mein Gefühl für Recht und Ordnung, so wie ich es zu Hause gelernt habe, völlig über den Haufen wirft: »Wer am lautesten schreit, dem glaubt man nicht.«
Ich bin völlig baff, als ich das höre. Wie kommt sie nur auf so eine Idee?
»Aber das stimmt wirklich!«, versuche ich sie zu überzeugen.
Doch die Kindergärtnerin, die sonst immer so nett zu mir ist, beachtet mich gar nicht mehr. Sie nimmt den Jungen, der das alles verursacht hat, an der Hand und führt ihn zu einem weit entfernten Spieltisch, trocknet mit einem Taschentuch liebevoll seine Tränen. Dann verteilt sie Gummibärchen an alle Kinder. Nur mich übersieht sie, so als wäre ich gar nicht da. Einsam und ratlos stehe ich in meiner Ecke und reibe mir die Beule an meinem Kopf.
Es ist nicht einfach für mich, in dieser verwirrenden Welt das Richtige zu tun. Es fällt mir schwer, zu lernen, dass das, was mein Vater sagt und tut, offenbar noch lange nicht auch mir erlaubt ist. Um mir das beizubringen, greift mein Vater zu drastischen Mitteln. Wie an jenem Abend, als er mit Elke den Rechtsanwalt in der Kanzlei unter uns aufsucht und mich mitnimmt. Was der Anlass für diesen Besuch war, das weiß ich nicht mehr.
Gummibärchen spielen auch bei einem
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