Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
herrschte eine fröhliche, gelöste Stimmung in der neuen Wohnung. Die Fenster waren geöffnet, und ich lehnte mich weit hinaus. Da entdeckte ich auf einmal meinen Bruder Mark dort unten, den ich seit Kornelias Tod nicht mehr gesehen hatte und nach dem ich mich schrecklich sehnte. Den Mann, der ihn an der Hand hielt, kannte ich nicht – wahrscheinlich war er sein Vater. In diesem Moment ging mein Papa auf die beiden zu und sprach mit dem fremden Mann.
»Maaarki«, schrie ich, außer mir vor Freude, winkte und lehnte mich so weit aus dem Fenster, wie ich nur konnte. »Huhuuuu! Maaaark!«
Alle sahen hoch zu mir. Mark winkte zurück und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Mein Vater warf mir einen raschen Blick zu, verabschiedete sich hastig von dem fremden Mann und ging mit großen Schritten auf unser Haus zu. Noch ahnte ich das Unheil nicht, das gleich über mich hereinbrechen sollte.
Wenig später war mein Vater hinter mir, packte mich und versetzte mir ansatzlos brutale Schläge.
»Willst du sterben?«, schrie er mich an. »Willst du aus dem Fenster fallen? Das kannst du haben. Hier!«
Und damit hob er mich hoch, umfasste meine Fußgelenke und hielt mich kopfüber aus dem Fenster. Ich schrie. Unter mir schwankte die Straße.
»Willst du sterben?«, hörte ich meinen Vater brüllen – ich ahnte damals nicht, wie oft er mir diese Frage noch stellen würde. Ich hing über dem Abgrund, und Todesangst erfüllte mich.
»Willst du sterben?«, brüllte mein Vater.
»Nein«, wimmerte ich, atemlos und kaum hörbar. »Nein, nicht sterben. Nicht sterben …«
Nach einer Ewigkeit holte mich mein Vater wieder ins Zimmer und ließ mich los. Meine Knie knickten weg. Mir war schlecht, das Zimmer schien sich um mich zu drehen. Als ich es wieder wagte, aus dem Fenster zu sehen, war Mark verschwunden.
Am nächsten Tag tat meinem Vater leid, was er mit mir gemacht hatte. Er entschuldigte sich bei mir, und ich umarmte ihn, froh, dass er mir nicht mehr böse war. Er schenkte mir sogar ein rotes Fahrrad, und ich war überglücklich. Freude und Erleichterung schoben sich über die ausgestandene Todesangst und überdeckten den Schmerz, den ich wegen des Verlusts meines Bruders fühlte.
Wenig später brachte mein Vater eine verletzte Taube mit nach Hause. In der Badewanne baute er ihr ein provisorisches Nest, bis ihr gebrochener Flügel wieder verheilt war. Elke fand das »so süß von ihm«, und die beiden kümmerten sich liebevoll um den Vogel.
Eines Tages gerieten sie allerdings in einen ganz fürchterlichen Streit. Er ist mir aus zwei Gründen in Erinnerung geblieben: Zum einen war es der einzige »gleichberechtigte« Streit zwischen den beiden, an den ich mich erinnern kann, in dem sie alle beide einander wütend anschrien, ohne dass mein Vater gewalttätig wurde. Er schlug Elke nicht, stattdessen packte er seinen Koffer. Und ausgerechnet zu mir, die ich hilflos zwischen den beiden stand mit meinen fünf Jahren, sagte er: »So. Papa geht jetzt und kommt nie wieder.«
Ich brach in Tränen aus. Mein Vater war alles, was ich hatte auf dieser Welt. Elke war nicht meine richtige Mutter, und auch bei meiner Großmutter war ich nicht wirklich zu Hause. Und jetzt wollte er mich verlassen? Weinend und flehend stand ich im Flur und versuchte, mich an dem Koffer vorbeizudrücken, um meinen Vater mit meinen Ärmchen zu umschlingen und ihn am Weggehen zu hindern. Ich erinnere mich an diese tiefe Verzweiflung noch so, als wäre es gestern erst gewesen: die wahnsinnige Angst, vaterlos in einen Abgrund zu stürzen. Schließlich fing auch Elke an zu heulen, und am Ende weinte auch mein Vater. Er blieb, doch mein Urvertrauen in seine verlässliche Gegenwart war erschüttert.
Es gab in diesem einen Jahr 1985 viel Neues, was ich zu verdauen hatte. Man kann sagen, mein Leben wurde um- und umgekrempelt. Ich hatte außer Kornelia und Mark auch dessen Großeltern verloren, und sie fehlten mir sehr. Dafür bekam ich neue, oder anders gesagt: Sie bekamen mich. Denn Elkes Eltern musste man erst schonend beibringen, dass der neue Lebensgefährte ihrer Tochter sie bereits vor Jahren zu Großeltern gemacht hatte. Ein halbes Jahr lang verschwiegen Elke und Hamid meine Existenz den beiden gegenüber. Erst später erfuhr ich, dass Elkes Eltern ihrer Tochter und ihrem neuen Lebensgefährten geholfen hatten, die neue Wohnung zu finden und sie zu renovieren. Dabei hatten sie sich gewundert, dass das junge Paar unbedingt ein Kinderzimmer einrichten
Weitere Kostenlose Bücher