Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Zwischenfall eine Rolle, der für mich traumatischer nicht sein könnte. Die Gummibärchen sind in einer Glasschale auf dem Schreibtisch des Anwalts, und ich darf mir welche aussuchen. Die ganze Zeit halte ich mich an einer Falte in der Jeans meines Vaters fest; mein Vertrauen zu ihm ist grenzenlos, und in dieser fremden Umgebung erscheint es mir das Sicherste, mich an ihn zu halten.
Der Rechtsanwalt mustert uns neugierig. »Du siehst deiner Mama aber gar nicht ähnlich«, sagt er zu mir.
»Das ist auch nicht meine echte Mama«, erkläre ich ihm bereitwillig. »Meine echte Mama ist in Syrien. Danach hatte ich noch eine andere Mama, aber die ist leider gestorben, und ich hatte auch einen Bruder, der heißt Mark, den wollte ich heiraten, aber der ist jetzt auch nicht mehr da, obwohl der nicht gestorben ist. Ich habe auch ganz viele Onkels, das sind die Brüder von meinem Papa und wir sagen Amo statt Onkel, denn das ist Arabisch, und meine neue Oma hat mich im Kindergarten angemeldet, in der Regentenstraße, Frau Bergmann ist meine Kindergärtnerin, die sagt, wenn du zu viel Fernseher guckst, dann bekommst du viereckige Augen. Deshalb höre ich jetzt viel lieber Bibi Blocksberg, die kleine Hexe und …«
In diesem Augenblick trat mir mein Vater auf den Fuß. Das tat weh.
»Aua!«, schreie ich auf und füge erklärend hinzu: »Mein Vater hat mir gerade auf den Fuß getreten.« Ich ziehe meinen Fuß ein Stück zurück, überzeugt davon, dass das ein Versehen war. Noch immer halte ich die Falte in seiner Jeans ganz fest.
»Du hattest ja schon ein bewegtes Leben«, sagt der Rechtsanwalt und schmunzelt.
Bevor ich Luft holen kann, um ihm noch mehr zu erzählen, steht mein Vater brüsk auf.
»Entschuldigen Sie«, sagt er zu dem Rechtsanwalt. »Wir kommen lieber ein anderes Mal wieder«, und zieht mich an der Hand ziemlich grob hinaus.
Schon im Treppenhaus gibt er mir ein paar gesalzene Ohrfeigen, dass mir die Ohren klingeln. Doch mein Vater ist noch nicht fertig, für ihn fängt das Ganze erst richtig an.
»Du geschwätzige kleine Schlampe!«, schreit er mich an. »Kannst dein Maul nicht halten, was? Dafür schneide ich dir jetzt die Zunge ab!« Und so zerrt er mich die Treppe hinauf zu unserer Wohnung.
Noch ungezählte weitere Male wird es so sein wie jetzt. Mein Vater schimpft und droht mir Schreckliches an, während er nach dem Hausschlüssel sucht und die Tür öffnet. Ich bin dazu verdammt, dicht hinter ihm zu bleiben und ihm in unsere Wohnung zu folgen, die jetzt zur Folterkammer für mich wird, wie er mir versichert, und ich glaube ihm jedes Wort. Dieses Mal wird er mir die Zunge abschneiden, er hat ein für alle Mal genug von meiner Geschwätzigkeit.
Ich stehe im Flur, stocksteif vor Angst. Mein Vater geht mit schnellen Schritten, deren harter, hektischer Klang auf dem Fußboden mich in Panik versetzt und vor denen ich mich mein halbes Leben lang fürchten werde, in die Küche, schaltet das Neonlicht an, reißt eine Schublade auf und holt das große schwarze Messer heraus. Ich versuche davonzulaufen, renne hektisch den Flur entlang Richtung Wohnzimmer und wieder zurück, wie ein kleines Tier auf der Suche nach einem sicheren Versteck. Mit drei großen Erwachsenenschritten ist mein Vater bei mir und fängt mich ein.
»Steh sofort auf!«, befiehlt er mir. Ich gehorche. Ich weiß, dass Ungehorsam jetzt alles nur noch schlimmer machen wird.
»Nein, Hamid, was hast du vor?«, schreit Elke und wirft sich zwischen uns. »Lass sie los. Sie ist doch noch ein Kind.«
Sie stellt sich vor mich hin, schützt mich mit ihrem Körper. Mein Gesicht klemmt nun zwischen der Wand des Flurs und ihrem Gesäß fest, das sie fest gegen mich drückt, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihren Geruch durch den Jeansstoff einzuatmen. Der Druck gegen meinen Kopf tut weh, doch da ist ein tröstliches Gefühl von Schutz. Elke beschützt mich, mein Vater kann mir nichts tun, solange sie da steht. Doch schon wischt ein harter, brutaler Schlag meines Vaters diesen Schutz beiseite, Elke knallt mit voller Wucht auf den Boden, und ich bin ihm wieder ausgeliefert.
Ich lasse mich auf den Flurboden fallen, versuche, mein kleines Gesicht, vor allem Mund und Zunge, schützend zu verbergen, wäre so gerne eine Schildkröte, die ihren Kopf unter den Panzer ziehen könnte, unerreichbar für das große schwarze Messer. Doch ich bin keine Schildkröte, und mein Vater zerrt mich hoch.
»Schau mir in die Augen! Und jetzt: Raus mit deiner
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