Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Zunge«, brüllt er und geht vor mir in die Hocke, klemmt mich zwischen seine Knie. Da ist sie wieder, die Falte in seiner Jeans, an der ich mich vorhin noch vertrauensvoll festhielt. Jetzt bin ich es, die festgehalten wird wie in einem Schraubstock.
»Her mit deiner Zunge!«
Panisch starre ich auf das große schwarze Messer. Ich weiß nicht, woher er auf einmal das Papiertuch in der anderen Hand hat. Ich muss an das Spiel denken, das wir manchmal machen: Ein Leckerbissen liegt auf so einem Papierwischtuch, und ich muss versuchen, ihn mit der Zunge wegzuschnappen, ehe es meinem Vater gelingt, meine Zunge mit dem Tuch zu packen. Aber heute ist er nicht zum Spielen aufgelegt, und ich kann auch keine Süßigkeit sehen. Heute ist es blutiger Ernst, und mein Vater zwingt meinen Kiefer auf, packt meine Zunge mit dem Papierküchentuch und zieht sie weit, weit heraus. Das tut weh, doch noch größer ist meine Angst. Das große schwarze Messer nähert sich meinem Gesicht.
»Jetzt schneide ich sie dir ab«, sagt mein Vater, und seine schwarzen Augen glühen. Ich schreie und winsele, versuche mich zu wehren, doch seine Knie lassen mir keinen Spielraum, und meine Zunge sitzt fest zwischen seinen Fingern. Mein Vater, der sich in ein Ungeheuer verwandelt hat, fuchtelt mit dem Küchenmesser herum, schon setzt er es an. Ich schreie wie am Spieß.
Ich weiß nicht, was ihn dazu bringt, das Messer zu senken und meine Zunge loszulassen. Stattdessen wird seine Hand zu einer Kralle, und die bohrt sich tief in die Kuhle zwischen meinen Schlüsselbeinen, direkt unter der Kehle.
»Misch dich nie, nie mehr in die Angelegenheiten zwischen mir und meiner Tochter, Elke!«, sagt er leise und böse. »Ich kenne sie besser als du. Sie kann ihre Klappe nicht halten, verstehst du? Das muss sie lernen. Sonst schneide ich ihr die Zunge ab, das schwöre ich bei Gott.«
Er hakt seinen Finger dort ein, in die zarte Kuhle, wo sich meine Schlüsselbeine treffen, und zieht mich ganz nah zu sich heran.
Nur wenige Zentimeter trennen sein Gesicht von meinem. Voller Hass schaut er mir in die Augen.
»Wenn du das noch einmal machst, Meral, dann tu ich es. Ich schneide sie dir ab, deine verdammte Zunge. Haben wir uns verstanden?! Du redest nur, wenn du gefragt wirst und ich es erlaube. Hast du das verstanden? «
Mein Kopf nickt mechanisch und hört gar nicht mehr auf.
»Hast du verstanden?! Antworte!«
»Ja, Papa! Entschuldige, Papa! Entschuldigung, Papa! Entschuldigung, Papa! Entschuldigung, Entschuldigung …«
Er versetzt mir eine Ohrfeige. Und damit ist der Albtraum für dieses Mal zu Ende. Der Schock allerdings sitzt tief. Noch heute kann ich den Schmerz abrufen an der Stelle im Hals, wo meine Zunge angewachsen ist. Noch heute fühle ich, wie seine harten Finger sich in die Kuhle über meinem Brustbein bohren. Und noch heute weiß ich, wie sich die Angst anfühlt, die mich damals bis in die letzte Pore erfüllte.
Die Sache mit dem Messer an meiner Zunge hat mich lange Zeit verfolgt. Sie führte viele Jahre später sogar dazu, dass ich mich im Alter von siebzehn Jahren von einem Jungen verprügeln ließ: Ich fuhr mit einem Bus. Es ging mir gut und ich sang aus vollem Halse »Let the sunshine in« aus dem Musical Hair. Da war dieser Junge, der mir zurief, ich solle aufhören. Aber ich sang weiter.
Ich fand, ich hatte lange genug getan, was andere sagten, hatte mir lange genug den Mund verbieten lassen. Das war nun vorbei. Ich fühlte mich frei. Mein Vater konnte mir nichts mehr antun, und von diesem Jungen dort würde ich mir erst recht nicht den Mund verbieten lassen. Der Typ drohte mir alles Mögliche an, und als er tatsächlich sagte, er werde mir meine verdammte Zunge abschneiden, da legte ich erst richtig los. Am Ende verprügelte er mich, doch ich hörte noch immer nicht auf zu singen. Ich dachte an jenen chilenischen Widerstandssänger, der auch noch weitersang, als ihn die Junta mit Gewehren bedrohte. So wie er sang ich um mein Leben, sang um meine Freiheit, und auch für das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen war mit der unfassbaren Angst, ihm würde tatsächlich die Zunge abgeschnitten. Dieser Junge ahnte ja nicht, was hinter mir lag. Er ahnte nicht, dass es mehr brauchte, um mich zum Schweigen zu bringen, als ein Paar Fäuste und körperliche Überlegenheit. Damals hatte ich die Stärke in mir entdeckt, mit der es mir gelungen war, meine Kindheit ohne meine Mutter und mit meinem Vater zu überleben. Ich sang auch noch, als der
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