Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
offenen Türschlitz meines Zimmers den Film trotzdem mit an – bis ich mittendrin einschlief und einen schrecklichen Albtraum hatte.
In diesem Traum wurde mein Vater von Riesenmonstern bedroht, neben denen er ganz klein geschrumpft aussah. Ich wollte ihn unbedingt vor diesen Monstern retten. Und tatsächlich gelang es mir, sie in die Flucht zu schlagen, indem ich sie mit großen roten Gewürzdosen bewarf, so wie Kornelia sie in ihrer Küche stehen hatte.
Ja, ich vermisste meinen Vater. Doch ich wusste auch: Fünf Monate ohne ihn bedeuteten fünf Monate ohne seine Wutanfälle und Schläge. Wir machten es uns schön in dieser vaterlosen Zeit, verbrachten viel Zeit mit Ma und Pa und besuchten Elkes Schwester Ute, eine liebenswerte Lesbe, die seit vielen Jahren mit ihrer Lebensgefährtin und jeder Menge Katzen zusammenlebte. An Weihnachten rasierte sich Ute einen Weihnachtsbaum in ihre Haare und färbte ihn blau, was ich sehr lustig fand. Ich erinnere mich noch gut an einen unserer Besuche dort. Da waren ganz viele Studentinnen, die komische Sachen sagten wie zum Beispiel: »Sag mal, ist deine Schwester eine Hete?«, und damit Elke meinten, die sich darüber köstlich amüsierte und mir erklärte, was das heißt. Für mich war die Liebe zwischen Frauen gar nichts Ungewöhnliches, schließlich schmuste auch ich genauso gern mit Frauen wie mit Männern, das machte für mich keinen Unterschied. Doch wenig später sollte mein Vater uns aufs Strengste verbieten, je wieder Kontakt zu Elkes Schwester aufzunehmen. Das war nach einem Streit, in dem Elke ihm erklärt hatte, dass sie es ihm nicht erzählen würde, sollte ich einmal lesbisch werden – Grund genug für einen Mann wie meinen Vater, um völlig auszurasten. Tatsächlich hielt sich Elke an das Verbot; neun volle Jahre sah sie ihre Schwester nicht wieder, und erst als alles in Trümmern lag, nahm sie den Kontakt wieder auf.
Für mich wurden die fünf Monate Militärzeit meines Vaters zu einer Phase, in der ich wechselweise bei meinen Großeltern war, bei den Eltern meines Vaters und bei Ma und Pa. Die Welten hätten unterschiedlicher nicht sein können: Wenn ich bei Elkes Eltern war, ging ich oft mit Ella und ihren Freundinnen in die Sauna. Oder zum Wäschemangeln, was ich sehr mochte. Ich liebte den Geruch nach frischer, heißer Wäsche und genoss die warme Luft in diesen Läden. Da war ich dann der einzige dunkle Lockenkopf unter lauter blonden Frauen. Ich half Elke im Haushalt und lernte, wie man Kartoffeln schält; wir besuchten Freizeitparks, ich malte viele Bilder mit Wasserfarbe, sang und begann mich wie ein ganz normales Kind zu fühlen, sorglos und unbeschwert. Oft lief ich in jenem Sommer mit meinen Freunden aus der Nachbarschaft barfuß durch die Straßen, stieg mit ihnen in Schrebergärten ein und kletterte dort auf den Bäumen herum, benahm mich wie ein »echtes Cingenes-Mädchen«, wie Oma Halima oft scherzhaft-tadelnd sagte.
Auch Elke verbrachte damals viel Zeit bei Oma Halima und lernte erst jetzt so richtig jedes einzelne Mitglied unserer Familie kennen. Da saßen wir also zusammen im Wohnzimmer, kochten gemeinsam, tranken süßen Tee aus kleinen Gläsern und aßen selbstgemachte Pommes vom Blech oder klebriges Künefe, und mitten unter uns Schwarzschöpfen fühlte sich die blonde Elke mit den streichholzkurzen Haaren pudelwohl. Wenn mein Opa Abit nicht da war, herrschte meist eine fröhliche, gelöste Stimmung; überhaupt gab es eigentlich nur dann Streit, wenn die Männer auftauchten. Oma verteidigte mich stets, wenn meine jüngeren Onkel frech zu mir waren – Burhan, der jüngste Bruder meines Vaters, war ja nur drei Jahre älter als ich.
Ein Abend hat sich mir besonders eingeprägt: Ich schlief bei meiner Oma, und als wir zu Bett gingen, legte sie einfach so ihre Kleider ab. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich bewusst den nackten Körper einer erwachsenen Frau. Dann zog mich Oma Halima zu sich ins Bett und drückte mich wie ein Muttertier fest an sich. Instinktiv ahnte sie wohl, dass ich so viel Nähe sonst nicht bekam. An diesem Abend streichelte und wiegte sie mich in den Schlaf. Bis heute gehört dies zu den kostbarsten Erlebnissen in meinem Leben, rar wie eine Perle, die ich tief in mir bewahre. Mir war damals bewusst, dass mir Oma Halima an jenem Abend eine Extraportion Zärtlichkeit zukommen ließ. Und wenn ich später allein und verzweifelt, misshandelt und voller Schmerzen in meinem Bett lag, rief ich mir diese Wärme und Nähe in
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