Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Erinnerung, bis ich Trost in ihr fand, ruhig wurde und einschlafen konnte.
In diesen Monaten, während mein Vater in der Türkei war, schwoll die »Das arme Kind«-Litanei meiner Tanten mehr und mehr an. Warum, das wusste ich nicht. Hatte keine Ahnung, warum sie mir immer wieder diese langen, tiefen Blicke zuwarfen, begleitet von Seufzern. Warum manchmal das Gespräch verstummte, wenn ich in die Küche mit dem großen Sofa und der eingebauten Dusche kam. Was wusste ich schon von dem, was sich in der fernen »Heimat« abspielte, die für mich keine Heimat war, sondern ein Ort, wohin man tagelang mit dem Auto fahren musste, um dort seine Ferien zu verbringen?
Wie es so ist bei Familiengeschichten, gibt es zu jedem Ereignis so viele Versionen wie Erzähler. Erst vor Kurzem erfuhr ich, dass mein Vater während seiner Militärzeit die Wochenenden bei Saliha verbrachte, seinen Sohn kennenlernte und sich bekochen und verwöhnen ließ, ohne dass ihm ein männlicher Verwandter meiner Mutter den Dolch ins Herz rammte, was durchaus im Bereich der Möglichkeit gelegen hätte. Stattdessen nährte Saliha wieder Hoffnung in ihrem Herzen. Hoffnung, dass sie auch mich wiedersehen könnte. Hoffnung, dass Hamid sie mit zurück nach Deutschland nähme. Hoffnung, dass alles gut würde.
Es passt zu meinem Vater, dass er sich die Zeit während des lästigen Militärdienstes wenigstens am Wochenende ein wenig verwöhnen ließ. Hoffnungsvolle Frauen kochen gut, waschen einem bereitwillig die Wäsche und sind stets mit einem frischen Glas Tee zur Hand. Im fünften Monat, als Saliha bereits überlegte, was sie nach Deutschland mitnehmen müsste, zerstörte er dieses Traumgebilde. Er werde nicht sie, wohl aber seinen Sohn mitnehmen.
Was nun folgte, war ein erbitterter Kampf. Saliha hatte ihre Tochter verloren, um keinen Preis wollte sie sich auch noch von ihrem Sohn trennen. Ihre Familie sah das anders. Saliha war noch jung, erst Anfang zwanzig. Trotz der Scheidung würde man einen guten Mann für sie finden, doch einfacher war dies ohne ein Kind aus erster Ehe. Außerdem gehören in der islamischen Gesellschaft die Kinder dem Vater, bei Trennungen bleiben sie stets bei ihm. Vor allem einen Sohn konnte eine getrennt lebende Mutter nicht für sich beanspruchen. Und so begann Saliha verzweifelt mit Hamid zu feilschen.
»Nimm mich mit«, bat sie ihn. »Du kannst dein Leben führen und so viele Frauen haben, wie du nur willst. Alles, was ich brauche, ist ein kleines Häuschen und meine Kinder. Du kannst sie jederzeit sehen. Bitte, lass mich meine Kinder selbst großziehen!«
Aber das kam für Hamid nicht in Frage. Er wollte seinen Sohn, zu Hause hatte er schon eine Frau, die auch ein zweites Kind großziehen würde. Saliha brauchte er nicht, sie war eine Querulantin und würde ihm nichts als Ärger bereiten und unnötige Kosten verursachen. Wieso sollte er zwei Haushalte finanzieren?
Schließlich einigte man sich darauf, dass Mourad bis zu seinem fünften Lebensjahr bei seiner Mutter bleiben sollte. Dann würde Hamid kommen und ihn nach Deutschland holen.
Zwei weitere Jahre mit ihrem Sohn hatte Saliha herausgehandelt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie von nun an ihren Jungen mit anderen Augen ansah. Sie sah die Zeit verrinnen, während er am Brunnen mit den anderen Dorfkindern spielte. Sie sah ihn von sich weggleiten, wenn er die Ziegen seines Großvaters versorgen half. Sie verwöhnte ihn mehr, als sie selbst gut fand. Mitunter riss sie ihn an sich und presste ihn fest an ihre Brust, bis er sich quengelnd befreite und davonlief, um die Hühner zu jagen. Und abends, wenn alle bereits auf ihren Matten lagen und auch Mourad neben ihr mit gleichmäßigen Atemzügen schlief, lag sie wach und sah bereits den Tag kommen, an dem Hamid ihn mitnehmen würde. Oder ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit und spielten ihr, wie in einem schlecht geschnittenen Film, all die Szenen vor, die möglicherweise dazu geführt hatten, dass Hamid sie verstoßen hatte. Und wenn ihre Augen bereits brannten vor Müdigkeit und sie sich von einer Seite auf die andere warf, dann stiegen Bilder von ihrer kleinen Tochter Meral in ihr auf, von mir, wie sie mich gestillt und geherzt hatte, das kleine Rehkitz mit dem gelben Schnuller im Mund, das Kleinkind, das ich schon längst nicht mehr war. Und wieder schmerzten ihre Brüste wie damals, als ich so jäh von ihr weggerissen worden war: Brüste voller Milch, die für mich bestimmt war, nun aber völlig unnütz
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