Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Leylas Anwesenheit dafür sorgte, dass mein Vater weniger Aufmerksamkeit auf mich richtete, dann sollte es mir recht sein. Doch leider war dies nicht der Fall.
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»Kennst du die Angst …«
D as Thema, das meinen Vater in jenen Jahren am meisten beschäftigte, war der wieder aufkeimende Rechtsextremismus in Deutschland. Tatsächlich ging damals eine erste gewalttätige Welle der Ausländerfeindlichkeit durch Deutschland. Die Ereignisse in Hoyerswerda 1991, die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 und der Brandanschlag auf zwei türkische Familien in Mölln hinterließen Tote und Verletzte.
»Kennst du die Angst, im Schlaf zu verbrennen?«, stand auf dem Transparent, das ich gemeinsam mit meinem Vater bastelte und das er bei einer großen Demonstration stolz vor sich hertrug. In einem Fernsehbeitrag konnte man ihn sehen, wie er eine Hakenkreuzfahne verbrannte. Das machte mächtigen Eindruck auf meine Freundinnen.
Für mich hatten die Gewalttaten aber ganz konkrete Folgen: Mein Vater nahm sie zum Anlass, mich noch gründlicher zu kontrollieren und mich noch weniger aus dem Haus zu lassen. Er sagte, er habe Angst um mich. Darum fuhr er mich zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich aus dem Haus durfte, und holte mich auch wieder ab. Manchmal ließ er mich auch mit dem Bus fahren, stand aber auf einmal mit dem Auto an meiner Bushaltestelle. Ich konnte nie sicher sein, wann er wo auftauchen würde, und sein Anblick machte mir mehr Angst als alles andere. Auch dies war ein Grund für mich, mir zu wünschen, dass die Gewalt gegen Ausländer ein Ende nahm, denn immer dann, wenn wieder etwas geschehen war, wurde mein Bewegungsradius aufs Neue eingeschränkt. Doch leider nahm die Radikalität gegen Immigranten nur noch zu und rückte sogar immer näher. Der Brandanschlag von Solingen 1993, bei dem fünf Menschen starben, fand für uns quasi vor der Haustür statt. Und dabei sollte es nicht bleiben.
Ich war dreizehn, als ich vor diesem Hintergrund in eine unglaubliche Geschichte geriet, die für mich unabsehbare Folgen haben sollte. Ein Junge aus unserer Klasse namens Christoph sagte eines Tages zu mir und meiner Freundin Joy: »Esst nicht so viel Schokolade, sonst werdet ihr ja noch brauner.« Uns war klar, dass dies eine politisch nicht korrekte, rassistische Anspielung war. Ein Wort gab das andere, bis mich Christoph, wohl meiner Haare wegen, als »Costa-Rica-Frau« beschimpfte. Sensibilisiert wie wir waren, wollten wir das nicht einfach so hinnehmen, auch wenn später eine meiner Lehrerinnen meinte, Costa Rica sei ein sehr schönes Land: »Wir treffen uns nachher auf dem Pausenhof«, erklärte ich dem Mitschüler in drohender Pose. Wie man das machte, das hatte ich ja zu Hause fast täglich vor Augen. »Und dann besprechen wir die ganze Sache nochmal. Ja?!«
Da bekam Christoph es wohl mit der Angst zu tun. Dabei waren Joy und ich alles andere als Schlägermädchen, vor denen man Angst haben musste. Ich stellte mir vielmehr vor, ihn verbal »fertig zu machen«, wie es sich für ein Hippiemädchen gehörte, denn darin war mir keiner so leicht gewachsen. Als wir uns nach dem Unterricht tatsächlich auf dem Schulhof trafen, war es zu unserer großen Überraschung Christoph, der ansatzlos zuschlug! Er machte mit seinem Arm den Propeller, und ehe ich mich versah, erwischte er mich mit der Faust mitten im Gesicht. Ich verlor das Bewusstsein und ging zu Boden.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Schoß einer Mitschülerin, und meine Deutschlehrerin beugte sich über mich.
»Du lieber Himmel, dein Auge!«, sagte sie. »Das muss gekühlt werden.«
Und ich dachte nur: »O nein! Wenn das mein Vater sieht …«
Alles Kühlen konnte nicht verhindern, dass mir ein dunkelviolettes Veilchen im Gesicht erblühte. Ich versuchte, meine Haare über dieses Auge zu kämmen, und schlich mich so ins Haus. Elke lief mir als Erste über den Weg.
»Du liebe Zeit!«, rief sie laut, wie es nun einmal ihre Art war. »Was hast du denn gemacht?«
Sofort kam mein Vater dazu, um sich mein Gesicht anzusehen.
»Was ist passiert?«, wollte er wissen.
»Ach … nur so ’n Junge aus meiner Schule«, sagte ich leichthin, »wir haben uns gefetzt und … ich hab ihm aber auch eine verpasst …«
»Was war das für ein Typ? Ein Deutscher?!«
»Ja«, sagte ich zögernd, »ich glaube schon.«
Da rastete mein Vater völlig aus.
»Verdammt«, schrie er, »diese Nazi-Schweine. Haut einem Mädchen einfach ins Gesicht, nur weil sie
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