Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
wohnen?«, fragte mein Vater zu Elke gewandt, so als würde ihm diese Idee gerade einfallen.
»Warum nicht?«, antwortete sie. Das war typisch Elke. Sie sagte nie Ja oder Nein, verwendete lieber ausweichende Formulierungen wie »warum nicht« oder »mal sehen«. Auf diese Weise überließ sie alle Entscheidungen doch meinem Vater, selbst wenn er sie so direkt fragte.
In der Küche sagte ich zu ihr: »Hast du eigentlich die Kratzspuren auf seinen Armen und dem Rücken gesehen? Das solltest du dir mal anschauen. Woher hat er die, deiner Meinung nach?«
Doch Elke gab mir darauf keine Antwort.
Ich ging in mein Zimmer unten im Keller. Davor befand sich eine Art Abstellraum, und dort entdeckte ich Bettlaken, die voller Blut waren. Und nicht nur ein bisschen Blut, sondern richtig viel. Damals konnte ich mir noch keinen Reim darauf machen und war sehr erschrocken. Erst viel später habe ich verstanden, dass während unseres Pfingsturlaubs bei den Großeltern in unserem Haus offensichtlich eine Defloration stattgefunden hatte.
Bislang hatte mein Vater seine Affären stets außer Haus ausgelebt. Dass er sich nun eine andere Frau ins Haus holte, das war neu. Ich fand das ungeheuerlich, und noch weniger konnte ich verstehen, dass Elke das alles einfach so gutgelaunt hinnahm.
Am Tag danach wurde ich Zeugin einer seltsamen Szene, die ich ebenfalls erst viel später deuten konnte. Damals ergab das alles gar keinen Sinn für mich. Wir erhielten Besuch von Mohamed, einem entfernten Cousin meines Vaters, der aus demselben Dorf kam, in dem auch mein Vater aufgewachsen war. Gemeinsam mit Elke hatte Hamid diesen Cousin eines Nachts in einem einsamen Waldstück irgendwo an der Grenze abgeholt und illegal nach Deutschland eingeschleust. Und diesem Mohamed übergab mein Vater nun die blutigen Bettlaken.
»Siehst du«, sagte mein Vater, »sie war noch Jungfrau. Du kannst es bezeugen.«
Mohamed schaute erschrocken. Er hatte eine Plastiktüte in der Hand, in die stopften die beiden die Laken.
»Ja«, sagte Mohamed, »sie war Jungfrau. Aber Cousin, du hast doch schon eine Frau.«
»Na und?«, meinte mein Vater.
»Und die weiß nichts von der Zweitfrau …«
Nein, Elke wollte nichts von der »Zweitfrau« wissen, sie ignorierte einfach das Offensichtliche. Und so kam es, dass Leyla, das neunzehnjährige Au-Pair-Mädchen aus Marokko, bei uns einzog und sich mit meiner kleinen Schwester Meli das Zimmer teilte. Sie sprach Arabisch und Französisch, und mein Vater erzählte jedem, der es hören wollte, wie froh er darüber sei, dass er nun sein Arabisch auffrischen könnte. Mir half Leyla manchmal bei meinen Französischaufgaben. Tatsächlich aber hatten die beiden in Arabisch ihre eigene Sprache, die keiner von uns anderen beherrschte, und konnten sich ungestört unterhalten. Und ich fragte mich oft, was zwischen den beiden vor sich ging.
In diesem ersten Sommer nahmen Mourad und ich Leyla einmal mit zum Baden. Wir fuhren auf unseren Fahrrädern, und Leyla trug ein hübsches Sommerkleid, ihre herrlichen Haare wehten im Wind, und überall hupten die Männer und schauten ihr nach, so schön war sie. Als wir nach Hause kamen, erzählten wir das arglos. Und ahnten nicht, was wir damit anrichteten.
Am nächsten Tag nahm mein Vater Leyla mit zu seiner jüngsten Schwester, zu Yildiz halla, die einen Friseurladen hatte. Sie war bekannt dafür, dass sie den Mädchen »die Zöpfe abschnitt« und ihnen stattdessen hässliche Frisuren verpasste, meistens viel zu kurz. Und nun kürzte sie mit dem größten Vergnügen Leylas wunderschönes langes Haar auf Kinnlänge.
Wie ein Vogel, dem man die Flügel gestutzt hatte, saß Leyla am Abend in ihrem Zimmer, das sie mit Meli teilte, und weinte. Wie eine entkrönte Königin kam sie mir vor, denn unser aller Stolz war ja damals unser prächtiges Haar.
Damals tat sie mir entsetzlich leid, und ich bereute es, dass wir überhaupt erzählt hatten, wie schön alle Leyla auf ihrem Fahrrad im Sommerkleid gefunden hatten.
Ich mochte Leyla gern, unter anderen Umständen hätten wir Schwestern sein können. Sie war sehr lustig, konnte ungeheuer albern sein; wie ein verspielter kleiner Affe tobte sie mit uns herum. Eigentlich war sie für ihr Alter schrecklich naiv, schlug verschämt die Hand vor den Mund, wenn sie lachte. Ich fühlte, wie unerfahren sie war, ahnte aber vom ersten Tag an, dass zwischen ihr und meinem Vater etwas »lief«, was nicht sein sollte. Vielleicht war mir nicht von Anfang an klar, dass
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